Brouria Bitton-Ashkelony: Encountering the Sacred. The Debate on Christian Pilgrimage in Late Antiquity (= The Transformation of the Classical Heritage; Vol. 38), Oakland: University of California Press 2005, xv + 250 S., ISBN 978-0-520-24191-6, GBP 29,95
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Obwohl das Christentum eine Religion ist, die mit Jerusalem, Bethlehem und anderen Stätten über prägnante Erinnerungsorte verfügt, waren Pilgerreisen in der Spätantike ein keineswegs unumstrittenes Phänomen. Zwar strömten ab dem 4. Jahrhundert zahlreiche Pilger nach Palästina, doch die Urteile namhafter Theologen hierzu waren durchaus unterschiedlich. Sie reichten von begeisterter Unterstützung bis zu vehementer Ablehnung. Warum aber war gerade bei Theologen, Bischöfen und Äbten die Begeisterung über Pilgerreisen zu den heiligen Stätten der Christenheit in der Spätantike keineswegs derart einhellig, wie man vermuten könnte? Dieser Frage geht das Buch von Brouria Bitton-Ashkelony nach. Ihre plausible These ist, dass sich im theologisch akzentuierten Diskurs über heilige Orte zuweilen auch gänzlich andere, oft sehr persönliche Motive spiegelten. Darüber hinaus nutzt die Autorin die Äußerungen von Theologen und Äbten aber auch zur Analyse der Frage, wie im christlichen Diskurs der Spätantike die Sakralität eines Ortes definiert wurde bzw. wie hoch man den Wert sakraler Räume für das Christentum dort überhaupt einschätzte.
Bereits ihr erstes Beispiel, der Fall der beiden Kappadokier Gregor von Nyssa und Basilius von Caesarea markiert ein offenkundiges Paradox. Beide Brüder hatten nachweislich selbst Pilgerreisen ins Heilige Land unternommen. Während Gregor diese Reise jedoch, ganz im Gegensatz zu früheren Äußerungen, später mit der Notwendigkeit einer diplomatischen Intervention herunterspielte, schwieg Basilius hierüber völlig. Bitton-Ashkelony begründet diese Zurückhaltung überzeugend mit dem Interesse beider Brüder, als Bischöfe von Kappadokien vor allem lokale Märtyrerkulte zu popularisieren und dadurch auch ihre bischöfliche Machtstellung zu stabilisieren. Für beide lassen sich zahlreiche Initiativen zur Förderung und Institutionalisierung lokaler Märtyrerkulte nachweisen, bis hin zur Einberufung von Bischofssynoden zu Märtyrerfesten, um die örtlichen Ereignisse mit Glanz und Bedeutung zu erfüllen.
Folgerichtig finden sich vor allem im Schrifttum Gregors von Nyssa (ep. 2) sehr distanzierte Bemerkungen über Jerusalem und seine Bewohner. Laut Gregor ist eine Pilgerreise nach Jerusalem nicht nur überflüssig, sie störe sogar das asketische Leben. Zudem sei die historische Bedeutung dieser Stadt keineswegs identisch mit einer unmittelbaren Gegenwart Gottes, zumal infolge der Himmelfahrt Jesu Gott ohnehin omnipräsent sei. Allerdings wertet Bitton-Ashkelony seine Behauptung, Jerusalem sei geradezu eine Stadt der Verschwörungen, zu Recht auch als Hinweis auf persönliche Unbill, die Gregor erlitten hatte. Er hatte beim dortigen Bischof Kyrill keine Akzeptanz für seine theologischen Ansichten gefunden. Seine offensive Bestreitung war deshalb auch eine Attacke auf den Bischof, der die historische Bedeutung seines Bischofssitzes dezidiert für seine pastorale Vermittlung und die Verbesserung der Machtansprüche seines Bischofssitzes nutzte.
In Hieronymus charakterisiert die Autorin hingegen einen der enthusiastischsten Anhänger des Heiligen Landes und der Reisen zu den Stätten der Christenheit. Immerhin hatte er selbst Rom 383 verlassen, um Palästina nicht nur zu bereisen, sondern sich auf dem Ölberg dauerhaft niederzulassen. Tatsächlich wurde Hieronymus auch zu einem der ersten Theoretiker des christlichen Pilgerwesens, der entscheidende Begründungshorizonte zur Bedeutungszuweisung der biblischen Stätten lieferte. So beschrieb er nicht nur die heiligen Orte, sondern auch deren Wirkung: Erst der Anblick der Ruinen judäischer Stätten lehre ein Verständnis der heiligen Schrift, was den Sinn von Reisen dorthin evident mache. Zudem stünde bereits die biblische Tradition Jerusalems für die ewige Verbindung Gottes mit seiner auserwählten Stadt. Dies kulminierte in seiner Forderung, dass das Herrengrab nicht nur durch alle zu ehren sei, sondern ein Besuch des Grabes Jesu geradezu zur religiösen Pflicht für Christen werden müsse, auch wenn dies im Neuen Testament nicht gefordert werde. Hieronymus versuchte also nichts weniger als die Schaffung eines Ideals für eine neue religiöse Praxis, indem er die intensivierte christliche Anbetung mit einem klar umgrenzten historischen Ort verband. Diese Perspektive verdüsterte sich zwar, als er auf Grund eines Streits mit dem Jerusalemer Bischof Johannes 394 vom Besuch der heiligen Stätten ausgeschlossen wurde, doch seine grundsätzlich positive Einstellung zu den biblischen Orten behielt der Theologe bei.
Ein völlig anders geartetes Spannungsfeld skizziert die Verfasserin am Beispiel des Augustinus. Als Theoretiker christlicher Pilgerschaft vermag Augustinus nichts zu liefern und das, obwohl er im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen keineswegs offensiv gegen die Bedeutung von Pilgerreisen agitierte. Kennzeichnend für sein Werk ist aber ein völliges Schweigen zu diesem Problem. So bekundete er nicht nur einen völligen Mangel an Interesse bezüglich der Pilgerreisen. Auch eine Erörterung der heiligen Plätze Jerusalems oder Roms war für ihn als theologisches Thema völlig uninteressant, obwohl er seinen eigenen Werdegang als spirituelle Pilgerreise beschrieb und die peregrinatio fundamental für seine Konzeptionalisierung des Christentums war.
Allerdings belegt die Autorin, dass dieses Desinteresse sich völlig konsequent aus einem spirituell-rationalistischen Konzept herleitet, das in enger Anbindung an paulinische Konzepte die peregrinatio als Pilgerfahrt vom Leben aus dem Fleisch zum Leben im Geist verstand. Dies implizierte auch eine eher spirituelle Auffassung der Präsenz Gottes. Zwar nutzte der Theologe durchaus biblische Geschichten zur Wahrung der christlichen Memoria, dennoch spielte in seiner allegorischen Interpretation die Geographie explizit keine Rolle. Augustinus betonte immer die universale Dimension der Passionsgeschichte, wie er auch die Wahl von Bethlehem als Geburtsort Jesu damit begründete, dass Jesus sich explizit keine bedeutende Stadt habe auswählen wollen. Da sich der sakrale Raum nach Auffassung des Bischofs ohnehin im Innern des Menschen befand, war es völlig unnötig zu reisen. Es sei nicht nur unmöglich, Gottes Präsenz mit einem geographischen Ort zu verbinden, da Gott eher in den Heiligen und Gerechten wohne. Die Annahme der besonderen sakralen Dichte eines Orts schmälere Gottes Allgegenwart sogar, da er dann an anderen Stellen weniger präsent sei.
Wesentlich anders gestaltete sich seine Einstellung zum Problem des Märtyrerkults. Trotz anfänglicher Widerstände musste sich Augustinus angesichts des besonders in Afrika machtvollen Volksglaubens an die Kraft der Märtyrer im Laufe seiner Bischofstätigkeit zu gewissen Zugeständnissen bereitfinden. Bitton-Ashkelony zeigt, dass er hier beständig zwischen seinem rationalistischen Anspruch lavierte, der in einer besonderen Konzentration sakraler Präsenz eher eine Schwächung der Allgegenwart Gottes sah, und dem Wunsch, den starken Glauben seiner Gemeindeglieder zumindest in geregelte und pastoral wertvolle Bahnen zu lenken. Als zentrales Kennzeichen eines heiligen Ortes postulierte Augustinus, dass Gott hier Wunder gewirkt habe. Dies war jedoch ebenso wenig an einen bestimmten geographischen Ort wie an das Wirken eines bestimmten Menschen, etwa eines Märtyrers gebunden. Folgerichtig bestritt Augustinus auch die Wirksamkeit einer Bestattung an den Gräbern der Heiligen, zumal er ein nachhaltiges Interesse daran hatte, dass diese nicht als kleine Götter wahrgenommen wurden, sondern sie ihre Heiligkeit nur als Mittler zu Gott besaßen. Bedeutung gestand Augustinus den Märtyrern immerhin als Ansporn zur Sittenreform seiner Gläubigen zu. Sein Interesse am Märtyrerkult galt also eher deren frommem Verhalten als der geographischen Bedeutung eines bestimmten Ortes.
Eine ähnliche Ambivalenz bestimmte auch die Überlegungen der monastischen Literatur, obgleich es gerade Mönche und Nonnen waren, die durch Pilgerreisen ihre Identität zu festigen und zu vertiefen suchten. Einwände dagegen argumentierten oft mit dem Begriff der hesychia, der Ruhe, der monastischen Stabilität und Kontemplation. Tatsächlich aber lagen die Motive dieser Kritiker, wie z.B. Athanasius oder Evagrius Ponticus, nicht selten in deren Furcht begründet, Mönche ihrer Klöster an die heiligen Stätten Palästinas zu verlieren. Dennoch fruchteten ihre Einwände nur zum Teil. Es entwickelte sich vor allem ab dem 5. Jahrhundert eine Pilgerbewegung, die von der Faszination zeugte, welche das Reisen zu heiligen Stätten für die spätantiken Christen schichtenübergreifend gewann. Doch es waren eben keineswegs nur die heiligen Orte Palästinas, sondern auch Märtyrergräber und zahlreiche Wohnorte von heiligen Männern und Frauen im gesamten Römischen Reich, die zu Pilgerzielen wurden. Insofern ist die Bezeichnung von Konstantinopel als "Zweites Jerusalem", welche sich erstmals in der Vita des Daniel Stylites findet, geradezu symptomatisch. Sie zeugt davon, dass man sakrale Präsenz durchaus für mehrere Orte akzeptierte, und zwar vor allem dort, wo Menschen in besonderer Weise im Geiste der Bibel lebten.
Gewiss hätten manche Ausführungen dieses Buches etwas stärker systematisch gestrafft werden können. Interessant wäre es auch gewesen, auf der Basis religionssoziologischer Analysen der Frage nachzugehen, welche Bedeutung und welche Konsequenzen diese Bereitschaft zur Vervielfachung heiliger Orte für das Christentum hatte. War man zu dieser Vervielfachung möglicherweise als Reaktion auf die noch lange spürbare Macht der großen Zahl lokaler paganer Heiligtümer gezwungen? Dennoch ist der Autorin ein sehr spannender und informativer Beitrag zur Debatte über das christliche Pilgerwesen in der Spätantike und dessen Kategorien gelungen.
Claudia Tiersch