Gabriele M. Knoll: Kulturgeschichte des Reisens. Von der Pilgerfahrt zum Badeurlaub, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, 160 S., ISBN 978-3-89678-548-0, 29,90
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Der Anspruch einer Kulturgeschichte wiegt schwer. In ganz andere Richtung weist da der Einband, der mit der Abbildung eines "Spaziergangs am Strand" schon die Liebe der Autorin zur Badereise verrät. Ein hübsch und reich bebilderter Band liegt hier vor, keine Kulturgeschichte.
Die Autorin, die sich als Journalistin und Verfasserin von Reiseführern einen Namen gemacht hat, lässt bereits in ihrer Einleitung erkennen, dass es ihr nicht um wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn geht. So zitiert sie zwar, was unter "Reise" zu verstehen sei, verwendet den Begriff jedoch synonym mit "Fremdenverkehr" und "Tourismus", "da ihre Differenzierung für den räumlichen Aspekt einer Kulturgeschichte des Reisens, die mehrere Jahrhunderte umfasst, von untergeordneter Bedeutung ist" (7). Das Thema wird nicht recht eingegrenzt und der Anspruch des Titels nicht durch eine wie immer geartete Einordnung in die seit Jahren blühende Landschaft der Reiseforschung eingelöst. Sinn und Zweck des Bandes liege vielmehr darin, so die Autorin, die Freude am Reisen zu wecken und neu zu lernen, die Sinne für das Fremde zu öffnen (9).
Ohne die Antike mit ihren zum Teil bedeutenden Reisenden auch nur zu erwähnen, wendet sich Knoll dem Mittelalter zu, darin vor allem den Badereisenden, den Pilgerfahrten und Geschäftsreisen. Bereits hier fällt eine Lücke auf, die das ganze Buch auszeichnet: Es fehlen die Fürstenreise, die Diplomatenreise, es fehlen Reisen, die auf künstlerische, historische, ökonomische und technische Lernziele ausgerichtet sind, fast vollständig. Anschaulich ist allerdings, was Knoll etwa über die mittelalterliche Badekur zu berichten weiß und dem Laien wahrscheinlich unbekannt sein dürfte - zu diesem Thema erfährt man mehr als zur Reise selbst.
Für das 17. und 18. Jahrhundert verzeichnet Knoll die gewachsene Mobilität der Gesellschaft. Grand Tour, Gelehrten- und Künstlerreise, Wallfahrt und wieder Badereise bilden hier die Schwerpunkte ihres Interesses. Nur spärlich genutzt bleibt ein mit 12.000 Drucken schier unübersehbares Textkorpus an Reiseberichten. Auch verschweigt Knoll, welche Rolle Reisen und unmittelbarer Nachrichtenaustausch für das Zustandekommen einer aufgeklärten Gesellschaft spielen.
Die Reisen im 19. Jahrhundert sind durch technische Erfindungen beschleunigt, das Publikumsinteresse wendet sich dem Rhein und dem Hochgebirge zu. Neben den auch hier beliebten Badereisen beobachtet Knoll in diesem Kapitel die Wandlung von der Herberge zum Grand Hotel, wobei sie diese neue Bauaufgabe in ihrem architekturgeschichtlichen Wert würdigt. Aus dem Rahmen fällt das kleine Kapitel zu Panoramen und Piers, die wenig gemeinsam haben, zumal das Panorama ausdrücklich den Daheimgebliebenen die Welt nach Hause bringen soll, aber hier als Reiseziel von eigenem Wert einen Platz gewiesen bekommt. Alpenverein, Wandervogelbewegung und die Entstehung der Jugendherbergen beschließen das Kapitel.
Im 20. Jahrhundert verzeichnet Knoll zwar "ferne Ziele", findet diese aber lediglich in "künstlichen Welten" (121) und keineswegs in Übersee. Hingegen spielen auch hier die Bäder eine tragende Rolle. Die Alpen werden nun auch im Winter bereist, und die letzten Abschnitte sind den Phänomenen gewidmet, die untrennbar mit 'Drittem Reich' und Nachkriegszeit verbunden sind: 'Kraft durch Freude' und die neu entfachte Sehnsucht nach Italien. Das Buch endet mit einem Ausblick zu den neueren touristischen Entwicklungen und ihren ökologischen Folgen.
Ein Literaturverzeichnis mit Orts- und Personenregister rundet den Band ab. Die wesentlichen Publikationen zur Reiseforschung und ihre Autoren, etwa Bödeker, Brenner, Frank, Griep, Jäger, Rees, Siebers oder Tilgner, fehlen fast gänzlich. Dasselbe gilt für die seit 1992 an der Eutiner Landesbibliothek existierende Forschungsstelle zur historischen Reisekultur und das 1998 in Paderborn eingerichtete Graduiertenkolleg "Reiseliteratur und Kulturanthropologie". Ein weiteres Manko wird spätestens hier erkennbar: Nahezu alle Quellen werden nach der benutzten Literatur zitiert, mit allen Folgen für Auswahl und Beurteilung (vergleiche: 37).
Dass auch in einer Kulturgeschichte nicht alles zu Wort kommen kann, was das Reisen ausmacht, ist erklärlich. Trotzdem fehlt dem neugierigen Leser vieles, das höchstens kursorisch gestreift wird: Gibt es Geschlechterunterschiede beim Reisen? Wenn Knoll von weiblichen Alleinreisenden spricht, nennt sie längst Bekanntes (39 f.). Erhellend wäre hier die Beschäftigung mit - nicht ganz unbekannten - weiblichen Reisenden gewesen. Fürstin Louise von Anhalt-Dessau, die Malerin Maria Sibylla Merian und die Geschäftsfrau Gückel von Hameln könnten dem Leser zeigen, ob es für Frauen andere Möglichkeiten und Regeln des Reisens gab, ob sie einen anderen Blick für die Fremde hatten, vielleicht auch andere Motive, zu reisen.
Wenn von den beschleunigenden Medien des Schiffs und der Bahn die Rede ist, ist es irreführend, sie eigentlich nur für das 19. Jahrhundert zu erwähnen (69 ff. und 112 ff.). Das Schiff als Fortbewegungsmittel spielte nun schon fast seit Menschengedenken eine Rolle, in den hier sehr eingeschränkten Zusammenhängen zum Beispiel für die Beförderung etwa der Pilger nach Einsiedeln über den Zürichsee oder als Bestandteil der Gotthardroute, wo die Fährleute der Luzerner "Sanct Nicolaus Feeren" seit 1544 Reisende und Waren beförderten. Dass die Kreuzfahrt gänzlich fehlt, die nun eine Reise ohne jeden Zweck, rein der Bewegung lebend, darstellt, ist aufmerksamen Lesern völlig unerklärlich. Ähnliches gilt für die Forschungsreisen, die nur gelegentlich (87) in einem Nebensatz erwähnt werden. Erklärbar ist dies nur mit einer unausgesprochenen Einschränkung des Reisens auf Europa.
Bei den Herbergen fehlen die Wirtsleute - und welch bedeutende Wirte und Gasthäuser gab und gibt es, auch und gerade in Europa! Die Bassermanns in Mannheim sind geradezu idealtypisch von Lothar Gall [1] gewürdigt worden, gerade in ihrer gesellschaftlichen und politischen Bedeutung. Dass es in Europa heute noch unzählige Häuser gibt, wie das seit 1026 in Basel bestehende Hotel Drei König, wird von Knoll nicht gewürdigt (102 ff.).
Woher die Reisenden wussten, welche Wege sie zu nehmen hatten und welche sich lohnten, wüsste man gern: Die Rolle gedruckter Reisebeschreibungen, aber auch der Druckgraphik für die Festlegung eines Kanons bleiben unerwähnt. Wie findige Verleger wie Baedeker die Routen der Reisenden für Generationen festschrieben, hätte zumindest einer Erwähnung bedurft.
Misst man das Werk an den eigenen Maßstäben der Autorin, wiegen die Mängel nicht so schwer. Einzig Fotos eines professionellen Fotografen und ein Lektorat, das Druckfehler, gelegentliche falsche Verweise und kleinere inhaltliche Unebenheiten ausmerzt, würde man sich wünschen. Dann stünde einer neuen Lust aufs Reisen nichts im Wege.
Anmerkung:
[1] Lothar Gall: Bürgertum in Deutschland. Berlin 1989.
Anna-Franziska von Schweinitz