Rudolf Suntrup / Jan R. Veenstra (eds.): Building the Past. Konstruktion der eigenen Vergangenheit (= Medieval to Early Modern Culture / Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit; Bd. 7), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, XX + 312 S., ISBN 978-3-631-54153-1, EUR 56,50
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Den Titelillustrationen von Büchern wird im Wissenschaftsbetrieb zumeist wenig Aufmerksamkeit geschenkt, doch vermögen diese bei sorgfältiger Auswahl den Leser auf die zu erwartende Lektüre vorzubereiten. Bei dem zu besprechenden Band, dessen Beiträge aus den Referaten zweier Tagungen eines gemeinsamen Forschungsprojektes der Universitäten Groningen und Münster entstanden sind, ist dies nahezu perfekt gelungen. Der Holzstich von Jost Amman zeigt das Motiv des Turmbaus zu Babel, dessen Vollendung bekanntlich daran scheiterte, dass Gott die Hybris der Erbauer damit bestrafte, dass fortan alle eine eigene Sprache besaßen und sie sich untereinander nicht mehr verständigen konnten. Auch die thematisch weit gespannten 14 Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit Konstruktionsvorgängen, jedoch nicht von Türmen, sondern von Vorstellungen von der jeweils eigenen Vergangenheit von Eliten, sozialen Gruppen und Nationen. Doch bleibt nach der Lektüre der Eindruck zurück, dass weder die Konstrukteure von Vergangenheiten in Spätmittelalter und Früher Neuzeit noch ihre gegenwärtigen Erforscher über eine gemeinsame Sprache verfügen. Zu spezialisiert und streng auf ihr jeweiliges Forschungsgebiet bezogen präsentieren sich die Studien, die für sich genommen durchaus zu überzeugen vermögen, als dass die Umrisse eines gemeinsamen Ertrags der Forschungen erkennbar würden.
Der erste Abschnitt des Bandes ist von den Herausgebern mit "Wiederentdeckung der Vergangenheit" überschrieben worden, doch wird in den Beiträgen nicht deutlich, warum von einer Wieder-Entdeckung gesprochen wird, zeigen die Studien doch größtenteils ein durchaus kontinuierliches Interesse an der Vergangenheit. So konnten die von Jörg W. Busch untersuchten Geschichtsschreiber Johannes Codagnellus und Bentius Alexandrinus für ihre Werke auf eine lange Tradition der Geschichtsschreibung in oberitalienischen Kommunen zurückgreifen. Doch während der Piacentiner Johannes Codagnellus die Ereignisse der Zeitgeschichte, insbesondere den Konflikt der oberitalienischen Kommunen mit Friedrich Barbarossa in die entfernte Vergangenheit zurückprojiziert habe, sei das Interesse des Notars Bentius Alexandrinus bereits auf "Tatsachenfeststellung" gerichtet gewesen.
Dieser Wandel der Geschichtsschreibung kann, wie auch der Beitrag von Roger Mason über die Wiederentdeckung der Vergangenheit im Schottland der Renaissance zeigt, nicht verallgemeinert werden. Der 1527 in Paris gedruckte Scotorum Historia des Humanisten Hector Boece war ein ausgesprochener Publikumserfolg, weil er die Frühgeschichte Schottlands, über die so gut wie nichts bekannt war, nutzte, um ein moralisches und politisches Modell als Maßstab für die eigene Gegenwart zu entwerfen, in dem er ritterliche Traditionen und bürgerliches Verantwortungsbewusstsein als maßgebliche Werte propagierte.
Mindestens ebenso frei wie die Historiographen in Oberitalien und Schottland gingen die Autoren fiktionaler Literatur mit der Vergangenheit um. Nine Miedema veranschaulicht am Beispiel des Theuerdank wie die Sammlung und Konservierung alter Erzählmodelle im Kontext des Gedechtnus-Projektes Kaiser Maximilians I. für die Stiftung neuer Sinnzusammenhänge genutzt werden konnte. Das Modell des ungebrochenen, unveränderlich guten und tapferen Helden - so die These - diente Maximilian zur Propagierung eines "absolutistischen" Helden- und Herrschermodells. Maryvonne Hagby kann am Beispiel des Romans "Die Königstochter von Frankreich" zeigen, wie ein eingeführter Erzählstoff zur Vermittlung historischen Wissens, hier über den Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich, verwendet werden kann.
Mit der symbolischen Aufladung mittelalterlicher Architektur beschäftigt sich der Beitrag von Kees van der Ploeg. Anhand von Beispielen wie der Aachener Pfalzkapelle, St. Michael in Hildesheim, dem Magdeburger Dom und St. Denis in Paris kann er überzeugend darlegen, dass die symbolische Bedeutung den architektonischen Formen nicht inhärent ist, sondern vom Betrachter zugeschrieben wird. Hierzu waren mittelalterliche, in allegorischem Denken geschulte Theologen besonders prädisponiert.
Die Beiträge im zweiten Abschnitt, der eine etwas stärkere inhaltliche Kohärenz aufweist, handeln von der Konstruktion nationaler Mythen in Schweden, den Niederlanden, Frankreich, Ungarn, Deutschland und im modernen Judentum. Alan Swanson verfolgt die Zuschreibung des Goten-Namens von den antiken Geographen bis zur frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung in Schweden, in welcher der Goten-Mythos eine zentrale Rolle bei der Formierung Schwedens als Nation erhielt. Wie Kees Dekker darlegt, stieß die frühmittelalterliche Lex Salica gleich in mehreren Ländern und Regionen auf Interesse, weil insbesondere ihre volkssprachigen Anteile - die so genannten Malbergischen Glossen - bei der Suche nach einer kulturellen und sprachlichen Identität von Nutzen waren.
Graeme Small zeigt in seinem Beitrag zur Geschichtsschreibung im Burgund des 15. Jahrhunderts, dass vermeintlich nationale Mythen nicht immer von einem auf Vereinheitlichung gerichteten Interesse des Herrschaftszentrums ausgehen muss. Die nach der Integration von Brabant, Hainaut, Holland und Zeeland entstandenen Geschichtswerke, die Eingang in die Bibliothek Herzog Philipps des Guten fanden, lassen sich auf die Initiative lokaler Machteliten zurückführen, die ein Interesse an Teilhabe an der fürstlichen Herrschaft hatten. Im frühneuzeitlichen Ungarn konnte sich nationale Identität nicht im Machtzentrum entwickeln, da es keinen Königshof im Land gab. Wie Kees Teszelszky darlegt, konstruierte daher die Aristokratie unter Verwendung mittelalterlicher Überlieferung die Idee einer ungarischen Nation, die sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als überaus wirksam erwies.
Ebenfalls aus dem Mittelalter stammt der Titel "Rex Christianissimus", den der französische König auch in der Frühen Neuzeit noch führte. Jennifer Britnell zufolge nutzte Ludwig XII. den Titel zum einen, um die Souveränität im eigenen Land zu untermauern, zum anderen, um einen Vorrang vor allen anderen Monarchen in Europa zu behaupten. Eine weniger an Gegenwartsinteressen orientierte Hinwendung zur Vergangenheit thematisiert der Aufsatz von Volker Honemann, der die Schrift "Van der niderlage drijer Legionen" des westfälischen Humanisten Johannes Cincinnius über die Varusschlacht untersucht. Obwohl das Thema der Varusschlacht eine patriotische oder gar nationale Aufladung nahe legt, übernimmt Cincinnius aus seinen Quellen auch die negativen Bemerkungen zu den Germanen. Der westfälische Humanist habe, so Honemann, das Material den deutschen Lesern in eher wissenschaftlicher Manier nahe bringen wollen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der dezidiert konstruktivistische Ansatz des Bandes nicht sonderlich zu dessen inhaltlicher Kohärenz beiträgt, da dies der einzige Berührungspunkt der für sich genommen interessanten, aber im Ganzen sehr heterogenen Beiträge bleibt.
Steffen Krieb