Ursula Haskins Gonthier / Alain Sandrier (eds.): Multilingualism and Multiculturalism in Enlightenment Europe. Proceedings of the International Seminar for Young Eighteenth-Century Scholars 2004 (= Études internationales sur le dix-huitième siècle; Nr. 10), Paris: Editions Honoré Champion 2007, 284 S., ISBN 978-2-7453-1565-6, EUR 55,00
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Seit Ende der 1980er Jahre hat sich die Internationale Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts kontinuierlich um die Öffnung zum wissenschaftlichen Nachwuchs bemüht. In der Tradition eines aufgeklärten Kosmopolitismus wurden so genannte East-West-Seminars begründet, die einer großen Zahl von Doktoranden und Postdoktoranden aus dem östlichen Europa den Zugang zu westlichen Archiven und Bibliotheken erlaubten und sie mit ihren Altersgefährten aus Westeuropa und den USA zusammenbrachten. Weder sprudeln heute die Geldquellen für ein solch weitschauendes Unternehmen noch vergleichbar reichlich wie in der Euphorie des zu Ende gehenden Kalten Krieges noch wäre die Verlängerung der Ost-West-Teilung einer Forscherkohorte zeitgemäß.
Geblieben ist aber die Idee einer speziellen Tagung für jüngere Wissenschaftler, die sich nicht allein mit dem Schaulaufen auf dem Arbeitsmarkt der "großen" Kongresse zufrieden geben müssen. Das Séminaire international des jeunes dix-huitiémistes hat sich inzwischen fest etabliert, und es gehört zu den vornehmsten Aufgaben der Vorstandsmitglieder der Gesellschaft, sich an der Vorträgen und Debatten zu beteiligen. Mit Blick auf den Erfolg dieses Formats möchte man anderen Verbänden empfehlen, sich gleichfalls so konzentriert um die Bindung der nächsten Generation an die Zwecke internationaler Vereinigungen zu kümmern.
Das Seminar des Jahrgangs 2004, das der vorliegende Band dokumentiert, widmete sich einem Thema, das in den letzten Jahren, vor allem seit dem Kongress für Aufklärungsforschung 2003 in Los Angeles, große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat: den Spuren und Wurzeln heutiger Vorstellungen von Multikulturalität im 18. Jahrhundert. Anders formuliert: Lässt sich eine Kontinuitätslinie von der Aufklärung in die globale Gegenwart ziehen und damit ein gewohntes Muster fortsetzen, wonach die positiven Werte nicht nur der Rationalität und des Säkularismus, sondern auch der freundlichen Kulturbegegnung und der Bereicherung an der Vielfalt der Traditionen aus dem 18.Jahrhundert hergeleitet werden können?
Die Suche nach einem solchen Ankerpunkt, der gewissermaßen die nationalistischen und rassistischen Verirrungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im Schatten eines großen Sprungs verschwinden lässt, hat zuletzt eine ganze Forschungsrichtung motiviert, die sich nicht länger mit den klassischen Texten der Aufklärungsforschung zufrieden gibt, sondern die Konfrontation des Europa der Aufklärung mit der außereuropäischen kolonialen Welt (so der Titel eines bemerkenswerten Sammelbandes, den Hans-Jürgen Lüsebrink 2006 herausgebracht hat) nachvollzieht. Diese empirische Entdeckungsarbeit wird ergänzt durch die Erörterung von Begriffen, deren Angemessenheit zu prüfen ist.
Die Einleitungsreferate dieses Bandes behandeln das weite Begriffsfeld der Multikulturalität (einschließlich der Alternativen von Trans- und Interkulturalität) und der Mehrsprachigkeit. In Hans-Jürgen Lüsebrinks (Saarbrücken) konziser und sehr systematischen Darstellung der Ansätze von Multikulturalität im 18. Jahrhundert wird deutlich, dass die Stratifikation der Gesellschaften im 18. weit stärker als im 19. Jahrhundert zur Geltung kam, mithin nicht ganze Gesellschaften (wie die französische oder eine noch gar nicht konstituierte deutsche) auf die Begegnung mit anderen Kulturen reagierten, sondern eher einzelne gesellschaftliche Gruppen und Milieus.
Man kann hier einen Gedanken anfügen, der in der jüngeren Globalgeschichte mehr und mehr an Geltung gewinnt: Die gruppenspezifischen entanglements erlaubten eine Vernetztheit von solchen Gruppen, von ökonomischen, politischen bzw. kulturellen Elitenformationen oder auch von Vertretern bestimmter Berufssparten über Grenzen hinweg, die weit stärkere Solidaritäten ausprägten als sie der Territorialverband generierte. Die Konkurrenz von solchen auf Vernetztheit orientierten Gruppen und solchen, die ihre kulturelle Identifikation mit dem sich konsolidierenden Territorialstaat verbanden, prägte die Multikulturalität des 18. Jahrhunderts. Ähnlichkeit und Differenz zu Ausprägungen von Multikulturalität im späteren 20. Jahrhundert werden am Ende von Lüsebrinks Einführung allerdings eher postuliert. Für eine genauere Beweisführung fehlt der Platz, auf dem eine analoge Betrachtung der rezenteren Verhältnisse zu entwickeln gewesen wäre.
Mehrsprachigkeit gehört ebenfalls zu den gegenwärtig viel diskutierten Phänomenen, sowohl aufgrund des ausgeprägten Interesses an Minderheitensprachen als auch aufgrund der langsam dämmernden Erkenntnis, dass nationalsprachliche Standards nicht länger die Vielfalt der Varietäten eines Sprachgebrauchs kontrollieren können, der sich über den ganzen Globus verteilt abspielt. Die Anerkennung der Gleichberechtigung von Französischvarietäten wie sie in Paris und in Dakar entwickelt werden, macht weder das Leben von Sprachpuristen noch die Verständigung in frankophonen Ländern unbedingt einfacher, aber sie ist unvermeidliche Begleiterscheinung einer postkolonialen Globalisierung. Die Engländer, die schon längst nicht mehr Herr der weltweit gesprochenen Englischvarietäten sind, können ein Lied davon singen.
Andres Kristol (Neuchâtel) setzt erwartungsgemäß mit der berühmtesten soziolinguistischen Untersuchung des 18. Jahrhunderts, der Fragebogenaktion des Abbé Grégoire von 1793, ein und nimmt die selbstsichere Formulierung Marc Fumarolis ("l'Europe parlait français") gelungen auseinander. Das Gesamtbild zeigt die Koexistenz von Mono- mit Bi- und Multilinguismus, eine reiche Zahl von Varietäten des Französischen und vieler Regionalsprachen allein innerhalb des Hexagon, vom übrigen Europa ganz zu schweigen. Die Sprachbeherrschung der angeblich perfekt frankophonen Eliten bei Hofe und in den Dichterstuben ließ gleichfalls zu wünschen übrig.
Was bleibt, ist eine aufregend disparate Sprachlandschaft, die nicht länger als Sonderterrain der linguistischen Forschung abgetan werden sollte, sondern Folgen für die allgemeine Interpretation der Verständnismöglichkeiten im 18. Jahrhundert hat. Wir begegnen erneut der Stratifikation der Gesellschaften, die sich nicht nur entlang der Kriterien Wohlstand, Lebensweise prägender Beschäftigung und Wohnort, sondern auch entlang der soziolinguistischen Teilungslinien sortierten.
Nach diesen Überblicksartikeln, die sich auf eine reiche Literatur zu ihren Themen stützen konnten, fassen die folgenden Teile des Bandes die Beiträge der jüngeren Forscher zusammen, die Neuentdeckungen aus den Archiven präsentieren: Manuela Böhm (Potsdam) befasst sich mit der Mehrsprachigkeit in der Berliner Hugenottengemeinde; Johannes Frimmel (Wien) geht der Buchgeschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie nach; Ulrich Müller (Berlin) startet von der Annahme, die Mehrsprachigkeit Ostmitteleuropas sei bisher nur in ungenügendem Maße Gegenstand der Forschung gewesen und entwirft davon ausgehend eine Agenda künftiger Untersuchungen; Vladislav Rzeutskij versucht über die Rolle der französischen Sprache in die Sozialgeschichte Russlands einzudringen; Charlotta Wolff (Helsinki) stößt mit ihrem Beitrag über die kulturelle Diversität und die daraus folgenden Identifikationsprobleme beim schwedischen Adel auf vergleichbare Fragestellungen.
Während es sich bei diesen Aufsätzen mit Fallstudien zu einzelnen kulturellen Räumen und den dort herrschenden Sprachverhältnissen handelt, wenden sich die folgenden Beiträge Mittlerfiguren und Übersetzungsaktivitäten zwischen verschiedenen kulturellen Räumen zu: Péter Balazs (Szeged) am Beispiel des "Spectateur" und seiner Übertragung ins Ungarische; Gunilla Eschenbach (Hamburg) anhand von Opernlibretti der Hansestadt zwischen 1710 und 1725, Nathalie Ferrand (München) mit Blick auf die Verbreitung französischer Romane in Bayern und Thüringen, Edwin van Meerkerk (Nijmegen) in Hinsicht auf die Übersetzungspraxis aus dem Französischen in den Niederlanden.
Im abschließenden Teil sind drei Studien zusammengebunden, die ebenso gut in die vorherige Abteilung hätten aufgenommen werden können, dann aber wahrscheinlich das Ungleichgewicht zwischen komparatistischen Fallstudien und Transferforschung zugunsten der letzteren noch eklatanter gemacht hätten. Cristina Bîrsan (Bukarest) befasst sich mit dem moldauischen Nationalhelden Dmitri Cantemir, Ursula Haskins Gonthier (Oxford) rekonstruiert die Perzeption Montesquieus in der englischen Presse und Alain Sandrier (Paris-Nanterre) spürt den Übersetzungen des atheistischen Baron d'Holbach ins Deutsche und Englische nach.
Der Reichtum der empirischen Belege für eine intellektuelle und soziolinguistische Verflechtungsgeschichte Europas ist beeindruckend, die Community der Aufklärungsexperten aus allen Teilen des Kontinents verspricht die weitere Formierung einer transnationalen Praxis. Es gehört aber auch zu den Eigentümlichkeiten eines solchen Seminars für Nachwuchswissenschaftler, dass die Jüngeren auf die solide Präsentation erster Arbeitsresultate festgelegt werden, während die Anstrengung des Begriffs den Älteren vorbehalten bleibt.
So zeigt auch dieses Seminar, dass einem um die Professionalität der 18. Jahrhundertforschung gewiss nicht bange sein muss. Aber die neuen Ansätze und die provokativen Infragestellungen des bislang etablierten Wissens verbergen sich vorläufig noch zu geschickt. Vielleicht ist es Zeit, das Format der internationalen Nachwuchsseminare wieder einmal weiter zu entwickeln.
Matthias Middell