Rezension über:

Diethelm Klippel (Hg.): Naturrecht und Staat. Politische Funktionen des europäischen Naturrechts (17. - 19. Jahrhundert) (= Schriften des Historischen Kollegs; Bd. 57), München: Oldenbourg 2006, XI + 231 S., ISBN 978-3-486-57905-5, EUR 34,80
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Rezension von:
Wolfgang Schild
Fakultät für Rechtswissenschaft, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Schild: Rezension von: Diethelm Klippel (Hg.): Naturrecht und Staat. Politische Funktionen des europäischen Naturrechts (17. - 19. Jahrhundert), München: Oldenbourg 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 2 [15.02.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/02/12012.html


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Diethelm Klippel (Hg.): Naturrecht und Staat

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Das Thema "Naturrecht und Staat" ist viel erörtert. Trotzdem widmete ihm Diethelm Klippel - damals Stipendiat des Historischen Kollegs - im Juni 2001 im Historischen Kolleg in München ein Kolloquium; die dort gehaltenen Vorträge sind nun in diesem Sammelband veröffentlicht. In seiner Einführung nennt der Herausgeber die Fragen, die trotz der bisherigen Forschung noch nicht zureichend beantwortet, ja zum Teil noch nicht einmal gestellt sind: In zeitlicher Hinsicht sei die Zeit vor der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht näher untersucht, vor allem was den Einfluss der (spät)scholastischen Naturrechtslehre betrifft; überhaupt sei zu wenig über das katholische Naturrecht vom 17. bis zum 19 Jahrhundert einerseits und über das moderne Naturrecht ab 1930 andererseits bekannt. In methodischer Hinsicht habe die von der sog. Cambridge-Schule beeinflusste "Neue Ideengeschichte" neue Perspektiven eröffnet und dabei beispielsweise den Blick auf die naturrechtlichen Lehrbücher gerichtet, die nicht von den "großen Autoren" stammten. Allerdings müssten auch diese Lehrbücher historisch kontextualisiert oder die ihnen zugrundeliegenden Gedanken zu den Wechselbeziehungen zwischen Ideen und Lebenswelt, Theorie und Praxis untersucht werden. Schließlich seien in inhaltlicher Hinsicht die naturrechtlichen Diskurse zu konkreten politischen und rechtlichen Fragen der Zeit (wie etwa die Ständelehre) noch wenig erforscht. Darüber hinaus sollte ein Blick auf die Entwicklung der Naturrechtslehre in ganz Europa geworfen werden.

Dieter Schwab (Regensburg) referiert über den "Staat im Naturrecht der Scholastik" (1-18). Dabei stellt er die Staatslehre des Thomas von Aquin in den Mittelpunkt. Es wird deutlich, dass eigentlich auch die Kirche "Anwärter auf die Staatlichkeit" gewesen ist. Für die daraus folgenden Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat habe die Übernahme und Verchristlichung der aristotelischen Philosophie die geistige Waffe dargestellt, wobei Schwab auf die Schwierigkeiten hinweist, die entstanden, da die realen politischen Verhältnisse des Feudalismus zu diesem philosophischen Staatsbegriff nicht gepasst hätten. Abschließend werden einige Einflüsse des scholastischen Denkens für die spätere Diskussion genannt (wie z.B. die Vorstellung, dass Staaten einen Ursprung haben, der jenseits der biblischen Schöpfungsgeschichte eine Vereinbarung unter den beteiligten Menschen sein könnte).

Jan Schröder (Tübingen) begründet und vertieft seine bereits früher vertretene These (19-34), dass die Naturrechtslehre in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts (vor allem Hobbes, Pufendorf, Thomasius) nicht primär ein überpositives Recht habe begründen wollen, sondern zur Rechtfertigung des positiven Rechts beigetragen habe. Sie habe mit der Staatsvertragstheorie das staatliche Rechtssetzungsmonopol begründet. Schröder verdeutlicht diese These an der Diskussion um das städtische bzw. provinzielle Statusrecht und um das Gewohnheitsrecht.

Barbara Stollberg-Rilinger (Münster) zeigt die naturrechtliche Umdeutung ständischer Verfassungsstrukturen im 18. Jahrhundert (103-117). Dafür folgt sie der Theorie von John Polock vom Charakter der deutschen Naturrechtslehre als einer "politischen Sprache", was bedeutet: dass die Juristen über alle (auch die überkommenen) Inhalte hätten sprechen und schreiben können, damit in der neuen Terminologie (etwa vom Staat als "Vertrag" oder vom Menschen als "Bürger(subjekt)"), wodurch sich diese Inhalte zugleich hätten verändern müssen. Auf diese Weise habe die Naturrechtslehre eine gemeinsame Verständnisbasis für die politisch-juristische Elite geschaffen und einen Standard politischen Argumentierens gesetzt, dem man sich nicht leicht habe entziehen können. Gleichzeitig habe sich die Rechtstheorie von der Historie getrennt.

Hartwig Brandt (Wuppertal) stellt die Konkurrenz von "Vernunft und Politik im Vormärz" dar (199-208). Er zeigt, dass sich das alte Naturrecht zu einem politischen Rationalismus entwickelt habe, dem ein Historismus des positiven Rechts entgegengetreten sei, der zunehmend in Absetzung von der französischen Entwicklung nationale Prägung angenommen habe.

Sybille Hofer (Regensburg) nimmt den Ausgang vom "Handwörterbuch der Staatswissenschaften", dessen erste Auflage von 1890/94 keinen eigenen Artikel "Staat" enthielt; erst im Ergänzungsband (1895) schrieb der Ökonom Adolph Wagner einen Beitrag mit dem Titel "Staat in nationalökonomischer Hinsicht". Sie veranschaulicht deshalb mit ihrer Darstellung "Naturrecht und Staat in der deutschen Politischen Ökonomie um 1900" (209-222), dass in der Zeit von 1871 bis 1900 (dem Jahr, in dem Georg Jellinek seine Staatslehre veröffentlichte) die Themen der Staatslehre von der Jurisprudenz zur Politischen Ökonomie gewandert seien, dass aber trotzdem der naturrechtliche Inhalt des Staatszweckes übernommen und nun wirtschaftlich (in Verbindung mit der sozialen Frage) uminterpretiert (und in der früheren individualistischen Ausprägung kritisiert) worden sei.

Den Blick auf die Entwicklung des Naturrechts in Europa richten mehrere Beiträge. Martin Fitzpatrick (Aberystwyth, U.K.) schreibt über "Natural law, natural rights, and the Toleration Act in England, 1688 - 1829" (35-58). Salvador Rus Rufino (León) skizziert anhand "Entwicklung des Naturrechts in der spanischen Aufklärung" (59-88) eine Spielart der katholischen Aufklärung in ihrem Verhältnis zur Tradition und zur Übernahme des Römischen Rechts. Wolfgang Schmale (Wien) behandelt "Naturrecht und Staat in Frankreich" (89-102) und betont den Charakter des zeitgenössischen Naturrechts als einer "Konsumware" auf dem Markt der Meinungen, weshalb es sich in Konkurrenz mit anderen Theorien habe durchsetzen müssen, was er an den Schriftsätzen der Rechtsanwälte in einem Streitfall vor dem Parlament von Dijon 1800 veranschaulicht. Christof Dipper (Darmstadt) geht auf den Zusammenhang von "Naturrecht und politische[n] Reformen in Italien, 1750 - 1850" ein (171-198). Er zeigt, dass die oberitalienischen Naturrechtlehrer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine religiös zu verehrende "giustizia naturale" mit den Inhalten Pflicht, Erziehung, Moral im Dienste einer prästabilisierten Harmonie in den Mittelpunkt gestellt hätten, aus denen keine Lösung der aktuellen politischen Fragen abzuleiten gewesen sei. Nach der Gründung des italienischen Nationalstaates und der Kodifizierung des Verfassungsrechts hätten sich die letzten Vertreter des Naturrechts nicht länger zu behaupten vermocht.

Schließlich geben zwei Beiträge einen Überblick über den Einfluss des Naturrechtsdenkens in der konkreten Gesetzgebung. Walter Demel (Neubiberg) stellt "Naturrecht und Gesetzgebung in mittleren deutschen Territorien" dar (119-144), mit dem Ergebnis, dass es nicht immer leicht sei, eine bestimmte politische Auffassung als "Naturrecht" auszuweisen (was am Beispiel des bayrerischen Vizekanzlers Kreittmayr im 18. Jahrhundert gezeigt wird), weshalb auch der politische Einfluss der eigentlichen Naturrechtslehren nicht überschätzt werden dürfe. Wilhelm Brauneder (Wien) widmet sich der Entwicklung in Österreich und schreibt "Vom Nutzen des Naturrechts für die Habsburgermonarchie" (145-170). Danach sei trotz der anerkannten naturrechtlichen Kodifikationen (des Strafgesetzes 1803 und des ABGB 1811) die Monarchie ein Torso eines Naturrechtsstaates geblieben, da ihre naturrechtlichen Anlagen nicht entfaltet worden seien und die durchgeführten Reformen - die genau aufgelistet werden - nicht zu einer Staatsverdichtung geführt hätten.

Dieser Überblick über die Beiträge lässt erkennen, dass einige der von dem Herausgeber angegebenen Fragen eine Antwort finden. Freilich bleibt - was bei diesem umfassenden Programm nicht anders zu erwarten war - vieles unbehandelt, damit weiterer Forschungsarbeit zur Beantwortung aufgegeben. Für diese stellt der Sammelband interessante und nicht zu vernachlässigende Grundlagen dar, an die angeknüpft werden kann und muss. Freilich muss man die Konsequenz solcher genauen Untersuchungen sehen: Je konkreter die Phänomene werden, desto mehr gerät das Gemeinsame, das Einheitliche eines "Naturrechts" aus den Augen, desto deutlicher werden die individuellen Unterschiede der einzelnen Naturrechtssysteme.

Zwei Kritikpunkte (die zugleich Vorschläge für weitere Projekte sind) möchte ich abschließend nennen. Zunächst ist gerade im Hinblick auf das Verhältnis des Naturrechts zum Staat zu bedauern, dass in diesem Sammelband die Strafrechtsgeschichte völlig ausgeblendet ist (mit Ausnahme einiger Hinweise auf das Bamberger Strafgesetzbuch von 1795/96 im Beitrag von Walter Demel, 141-144). Sodann ist für eine genaue Befassung mit dem Thema der juristische Diskurs notwendig zu überschreiten, nicht nur in Richtung auf die Nationalökonomie Ende des 19. Jahrhunderts (wie im Beitrag von Sybille Hofer geschehen), sondern hin zur Philosophie und Theologie. Dieter Schwab macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die scholastische Rechtsphilosophie als Theologie signierte, weil sie eben von Theologen betrieben worden ist. So kann man nach meinem Verständnis die Lehre des Thomas von Aquin nur angemessen verstehen, wenn man seinen philosophischen Ausgang von dem Satz "ens et unum et verum et bonum et pulchrum convertuntur" aufarbeitet (wie es etwa in der Philosophie von Erich Heintel ausführlich geschehen ist).

Die neuzeitlichen Vernunftrechtssysteme sind überhaupt philosophische Theorien, die auch die rechtlichen (und zwar auch im Sinne von positiv gesetzlichen) Inhalte einarbeiteten und so die Prinzipien konkretisierten. Zu Recht weist der Herausgeber auf den wesentlichen Unterschied der Einschätzung der Naturrechtslehre einst und heute hin. Die Moderne gehe von einem Gegensatz zwischen naturrechtlich-überpositivem Denken und dem Rechtspositivismus aus; vom 17. bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts dagegen sei das Naturrecht eine anerkannte rechtliche Disziplin gewesen. Klippel ordnet dieses Naturrecht als Teildisziplin der Rechtswissenschaft zu (IX); Barbara Stollberg-Rilinger betont, dass es ursprünglich an der Philosophischen Fakultät zu Hause gewesen sei (105). Inhaltlich und methodisch war und blieb das Naturrecht eine philosophische Theorie, die man auch philosophisch diskutieren müsste.

Wolfgang Schild