Ralf Meindl: Ostpreußens Gauleiter. Erich Koch - eine politische Biographie (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau; 18), Osnabrück: fibre Verlag 2007, 575 S., ISBN 978-3-938400-19-7, EUR 35,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Christoph Pan / Beate Sybille Pfeil (Hgg.): Zur Entstehung des modernen Minderheitenschutzes in Europa, Wien: Springer 2006
Juliane Haubold-Stolle: Mythos Oberschlesien. Der Kampf um die Erinnerung in Deutschland und Polen 1919-1956, Osnabrück: fibre Verlag 2008
R. M. Douglas: Ordnungsgemäße Überführung. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, München: C.H.Beck 2012
Auffallend viele Gauleiter in den preußischen Ostprovinzen des 'Dritten Reiches' waren Westimporte. Gab es im Westen zu viele ehrgeizige und - im nationalsozialistischen Sinne - fähige politische Führer, so fand sich im Osten oft kein Einheimischer, der die regionale Gliederung der NSDAP führen konnte oder wollte. Das berühmteste und berüchtigtste Westgewächs unter den Parteibonzen östlich von Oder und Neiße war der aus Elberfeld bei Wuppertal stammende Erich Koch. Der Bezirksleiter im NS-Gau Ruhr hatte im Herbst 1928 nach karrierebedrohenden Konflikten mit Joseph Goebbels und anderen regionalen Parteigrößen die Chance ergriffen, in die nationalsozialistische Diaspora nach Ostpreußen zu gehen, nachdem sich die dortigen Pg's hilfesuchend an den Reichsorganisationsleiter gewandt hatten.
Im Land zwischen Masuren und der Kurischen Nehrung avancierte Gauleiter Koch zu einem der bedeutendsten Paladine Hitlers, im Krieg dann sogar zum "braunen Zaren der Ukraine", d.h. zum wichtigsten Territorialherren im besetzten Osteuropa, bevor er 1944/45 mit seiner fanatisch dummen Durchhaltepolitik der "Henker von Ostpreußen" (M. Dönhoff) wurde. Auch mit dem jahrzehntelangen Desinteresse weiter Teile der bundesrepublikanischen Gesellschaft am historischen deutschen Osten hängt es zusammen, dass selbst ein Erich Koch bislang noch nicht Gegenstand einer politischen Biografie geworden war. Jetzt hat Ralf Meindl sie endlich vorgelegt. Nach der jüngst von Christian Rohrer publizierten Studie über "Nationalsozialistische Macht in Ostpreußen" (München 2006) unternimmt es damit abermals eine bei Bernd Martin in Freiburg entstandene Dissertation, die in der Einleitung zu Recht monierten "beträchtliche(n) Forschungslücken" zu Ostpreußens Zeitgeschichte zu füllen.
Koch wurde 1896 in materiell dürftige und beschränkte, aber doch geordnete Verhältnisse hineingeboren. Maßgebliche Prägungen erfuhr der streng protestantisch-"vaterländisch" erzogene Sohn eines Werkmeisters unter anderem im Christlichen Verein Junger Männer durch den (antisozialdemokratischen) Sozialpaternalismus der evangelischen Kirche. Dass er aufgrund der finanziellen Lage seiner Eltern keine höhere Schule besuchen konnte, sondern ab 1914 als Beamtenanwärter im mittleren nichttechnischen Dienst bei der Bahn Fahrkarten verkaufen musste, kreidete der nach Höherem strebende Koch dem ungerechten kapitalistischen System an. In einer Gesellschaft, in der nicht ererbtes Vermögen und überkommene Privilegien über das Fortkommen des Einzelnen bestimmten, so glaubte Koch, hätte auch er studieren können. Nach freiwilligem Kriegsdienst und anschließenden Freikorpsaktivitäten fand der ehrgeizige und unzufriedene junge Mann Mitte der 1920er Jahre im nationalen Sozialismus des führenden Nationalsozialisten Gregor Strasser eine seinem Weltbild entsprechende politische Heimat.
Als Koch 1928 die Gauleitung in Ostpreußen übernahm, war die Parteiarbeit dort "in Stillstand und Chaos" (85) versunken. Bei den Reichstagswahlen im Mai war Ostpreußen der einzige Wahlkreis gewesen, in dem die NSDAP weniger als ein Prozent der Stimmen geholt hatte. Doch bis September 1929 hatte Koch, der rastlos mit dem Fahrrad die Provinz bereiste, bereits 273 Reden gehalten und eine Ortsgruppe nach der anderen gegründet. Die vom Gauleiter in seinem Reden und Auftreten gezeigte "unrealistische Selbstsicherheit" hob ihn, ähnlich wie Hitler, aus der Masse der Funktionäre heraus und ließ ihn zur "charismatische(n) Richtfigur" der ostpreußischen NSDAP werden.
Zugute kam Koch, dass er sich mit seiner Herkunft aus dem CVJM und seiner moderaten Religionspolitik der evangelisch-lutherischen Kirche als politischer Bundesgenosse zu empfehlen wusste; diese fühlte sich in ihrer Insellage vom katholischen Polen besonders bedroht. Obendrein traten selbst die Deutschen Christen in Ostpreußen so "rechtgläubig" auf, dass Theologen der Bekennenden Kirche sich noch in den 1970er Jahren positiv über Koch als den einstigen Präses der Provinzialsynode äußerten und darüber hinwegsahen, dass der spätere Kriegsverbrecher bereits in der Kampfzeit bei den Saalschlachten in Ostpreußen menschenverachtende Gewalt an den Tag gelegt hatte. Koch verfügte mit dem "Königsberger Kreis", dem fast ausschließlich Konservative adliger oder bildungsbürgerlicher Herkunft angehörten, zudem über eine Art Thinktank. Diese jungen ambitionierten Verwaltungsfachleute wie der spätere Widerstandsangehörige Fritz-Dietlof von der Schulenburg, Hermann Bethke oder Hans-Bernard von Grünberg von der "Preußischen Zeitung" fanden am Nationalsozialismus vor allem die Ideenwelt Gregor Strassers attraktiv. Wie Koch vertraten sie eine Politik des "sozialistischen Preußentums".
Als es über Strassers Bündnisgespräche mit Kurt von Schleicher im Dezember 1932 zum Bruch zwischen Strasser und Hitler kam, soll Koch im Reichstag die Nachricht "mit hochrotem Kopf" entgegengenommen haben. Zwar sah er in der Weigerung seines "Führers", sich mit Strasser auszusöhnen, einen tragischen Irrtum, hielt Hitler aber weiterhin die Treue und hoffte, ihn doch noch zum "wahren Sozialismus" bekehren zu können. Die "provokante ideologische Komponente" seiner betonten Eigenständigkeit vermochte der mächtige Gauleiter noch über den "Röhmputsch" hinaus durchzuhalten. Doch im November 1935 enthob ihn Göring seines Amtes als Oberpräsident der Provinz, das Koch 1933 usurpiert hatte. Koch hatte sich vorher nicht nur den preußischen Ministerpräsidenten (mit Bemerkungen im "Kameradenkreis" über dessen "unsozialen" Lebensstil), sondern gleichzeitig auch den Reichsnährstand, die SA und die SS zum Feind gemacht. Die gegen Koch in einem Dossier zusammengetragenen Vorwürfe bezogen sich vor allem darauf, dass er seiner korrupten Entourage "Mord, Raub, Blutschande, Ehebruch" gestattet habe, solange sie nur seine politische Linie mitmachte; andernfalls, so hätte er gedroht, würde er sie "umlegen" lassen.
Wenn Hitler bei einem Scherbengericht über Koch in der Reichskanzlei den ostpreußischen Gauleiter freisprach, so nicht nur, weil ihn die sachlichen Argumente von Kochs Verteidigern (neben dem anwesenden Hess zählte auch Reichsbischof Müller und der Königsberger Kreis dazu) beeindruckten. Darüber hinaus profitierte Koch von seinem positiven Image als überdurchschnittlich erfolgreicher territorialer Vertreter des Führers, der in Ostpreußen bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 47,1 Prozent der Wähler von der NSDAP überzeugt hatte. Nach der sogenannten Machtergreifung 1933 wurde kein anderer Gau mit so vielen Schlagzeilen im Völkischen Beobachter bedacht wie der Kochs, dem u.a. das "Wunder von Ostpreußen" zugeschrieben wurde. Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit schon bis zum August 1933 war indes nur ein mit fragwürdigen Methoden herbeigeführter Scheinerfolg. Insgesamt aber nahm die Wirtschaft des Landes, begünstigt durch den Erich-Koch-Plan und die guten Beziehungen des Gauleiters nach Berlin, in den Jahren bis 1939 tatsächlich "einen deutlichen Aufschwung". Der längst überfällige Strukturwandel der Provinz hin zu einer Wirtschaftsform, in der zahlreiche mittelständische Betriebe die landwirtschaftlichen Rohstoffe vor Ort weiterverarbeiteten, "begann sich deutlich abzuzeichnen".
Mit Koch hielt Hitler nicht nur an einem wirtschaftspolitisch erfolgreich wirkenden Unterführer fest, sondern auch an einem Pg, der bei allem Eigensinn Hitlers Autorität nie offen in Frage gestellt hatte - und der ihm in der Folgezeit, geschwächt wie er aus der Oberpräsidentenkrise Ende 1935 hervorging, verbundener war denn je. Koch nahm seitdem nicht nur seine sozialrevolutionäre Rhetorik à la Strasser zurück, er beendete auch seine eher gemäßigte Kirchenpolitik und wurde generell zu einem "Entgegenarbeiter" des Führers in dem von Ian Kershaw beschriebenen Sinne. Koch wandelte sich vom Slawophilen, der in der Rassenvermischung zwischen Preußen und Slawen eine Art Jungbrunnen für das Reich sah, zum "Herrenmenschen" und "blutrünstigen Tyrannen der Ukraine". Vorher verantwortete Koch in dem 1939 Ostpreußen zugeschlagenen Teilen Masowiens und benachbarten Kreisen eine Politik, die z.B. mittels einer "außerordentlichen Befriedungsaktion" in Zichenau und Suwalki durch Deportation und Liquidierung der "polnischen Intelligenz" die "Vernichtung der lebenden Kräfte des polnischen Volkes" (ganz im Sinne Hitlers) betrieb.
Nachdem der Verfasser in stets überzeugender Argumentation, auf breiter Quellenbasis und noch dazu in analytisch-nüchternem Ton so viel neues Licht auf den Gauleiter Ostpreußens und seine gewaltigen Schattenseiten geworfen hat, neigt man sehr dazu, ihm auch dort zu folgen, wo er Kochs Rolle beim Untergang des deutschen Ostpreußen 1944/45 einer vorsichtigen Neubewertung unterzieht. Zwar stimmt es, dass der Gauleiter auch damals noch dem Führer "entgegenarbeitete" und die Ausarbeitung räumlich begrenzter Evakuierungspläne im Sommer 1944 schroff als defätistisch zurückwies. Doch waren auch Wehrmachtsgeneräle wie der Oberkommandierende der Heeresgruppe Nord, Generaloberst Ferdinand Schörner, die noch im Oktober 1944 von einer "offensiven Kampfführung" träumten, für das viel zu späte Ausgeben von Räumungsbefehlen verantwortlich.
Zum alleinigen Sündenbock für das grausame Schicksal Hunderttausender Ostpreußen wurde Koch später aber vor allem deshalb, weil er sich am 24. April 1945 in den Westen Deutschlands absetzte, jahrelang untertauchte und sich in der Öffentlichkeit nicht äußern konnte. So schoben diverse Militärs oder auch die Angeklagten des Nürnberger Prozesses dem tatsächlich schwerst belasteten Koch auch die Alleinschuld für Taten zu, an denen sie selbst erheblich beteiligt waren. Nach seiner Verhaftung 1949 wurde Koch an die polnische Justiz überstellt und 1959 zum Tode verurteilt. Da er die Umwandlung des Urteils in lebenslange Haft erwirken konnte, endete sein irdisches Dasein erst 1986 in einem Krankenhaus im ermländischen Allenstein - von der westdeutschen Öffentlichkeit zwischenzeitlich so vergessen wie die ganze Provinz Ostpreußen, die der Gauleiter aus Wuppertal mit in den Untergang geführt hatte.
Manfred Kittel