Johannes Hürter / Gian Enrico Rusconi (Hgg.): Der Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Sondernummer), München: Oldenbourg 2007, 143 S., ISBN 978-3-486-58278-9, EUR 24,80
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Es ist immer wieder erstaunlich, wie selbst in zentralen Themenbereichen der Geschichtswissenschaft bestimmte Aspekte, und oftmals keineswegs unbedeutende, jahrzehntelang weitgehend ausgespart bleiben. Im Fall der Forschung zum Ersten Weltkrieg gilt das etwa für die "Ostfront", die erst in letzter Zeit wieder stärker untersucht worden ist, und auch im historischen Gedächtnis seit jeher weniger präsent war als der Krieg im Westen. [1] Zumindest für die deutsche Geschichtswissenschaft gilt Ähnliches für die Rolle Italiens, sowohl bei der Vorgeschichte als auch im Verlauf des Ersten Weltkriegs. Dabei hat der deutsch-italienisch-österreichische Dreibund, wie inzwischen gezeigt wurde, keineswegs eine marginale Bedeutung für die internationalen Beziehungen der Vorkriegsjahre gehabt. [2] Zudem muss der Erste Weltkrieg gerade für Italien als einer der großen Einschnitte gelten, der zwar den Sieg und in gewisser Weise die Vollendung der nationalen Einigung brachte, aber gleichzeitig den Keim für die Entwicklung des ersten jener Regime legte, die Europa und die Welt schließlich in einen zweiten Weltkrieg stürzten.
Der von Johannes Hürter und Gian Enrico Rusconi herausgegebene Band über den italienischen Kriegseintritt geht auf eine Tagung zurück, die im Mai 2005 aus Anlass des 90. Jahrestags des Intervento in Trient stattfand, und an der sowohl deutsche als auch italienische und österreichische Historiker teilnahmen. In drei Schritten wird, von der Makro- zur Mikroebene, zunächst der allgemeinen historischen Bedeutung des 23. Mai 1915, den militärischen Kalkülen in der italienischen Armee vor und während des Kriegseintritts sowie den Mentalitäten und Wahrnehmungen der italienischen und österreichischen Bevölkerungsteilen im Trentino bzw. Südtirol während des Krieges nachgegangen.
Nah und fern zugleich stehen sich die beiden allgemeinen Interpretationen von Gian Enrico Rusconi und Holger Afflerbach, die den Band einleiten. Beide betonen, dass der Kriegseintritt auf der Seite der Tripelentente von einer schmalen Gruppe italienischer Politiker, darunter auch König Vittorio Emanuele, forciert und durchgesetzt worden ist. Sie agierten im Namen einer nationalen Bewegung zur Befreiung italienischer Gebiete, die es so gar nicht gab. Die italienische Bevölkerung stand dem Kriegseintritt unter dem Banner des Irridentismus vielmehr überwiegend indifferent bzw. skeptisch gegenüber. Dieser Befund bringt es mit sich, dass Rusconi wie Afflerbach den Kriegseintritt mitnichten als zwangsläufig ansehen. Andere, keineswegs ausgeschlossene innenpolitische Umstände hätten zu einer anderen italienischen Politik führen können. Zwar, so etwa Holger Afflerbachs Argumentation, "wäre es naiv" (55) bestimmte italienische (oder österreichische) Vorbehalte gegen den Dreibund sowie reale politische Spannungen innerhalb der Allianz zu ignorieren, dennoch: "Der Intervento war von bestimmten innenpolitischen Konstellationen abhängig, und es hätte leicht anders kommen können." (55)
Die Differenz der beiden Interpretationen ergibt sich aus dem weiteren Bezugsrahmen, vor dessen Hintergrund diese Ergebnisse jeweils gedeutet werden. Während Rusconi das Kalkül der italienischen Regierung als zeitgenössisch "normales" Interessen- und Prestigedenken charakterisiert, das vor 1914 weit verbreiteten außenpolitischen Politikvorstellungen und Machtkalkülen entsprach, entkleidet Afflerbach die Entscheidungen der italienischen Politiker jeder vermeintlichen "Normalität" und Rationalität. Er liest die italienischen Schritte in den Krieg vielmehr vor dem Hintergrund eines Konfliktes, der jede bis dahin bekannte Dimension sprengte. "Normale" außenpolitische Berechnung schlug angesichts einer Auseinandersetzung, deren Folgen nicht abzusehen waren, um in einen, wie Afflerbach schreibt, nicht zu relativierenden oder bagatellisierenden "Akt des Wahnsinns". (67f.) Es ist diese auch bei den Kriegsentscheidungen der anderen Mächten zu beschreibende Grenze zwischen politischer Ratio und einem dezisionistisch anmutenden Schritt in einen Krieg, dessen verheerendes Potential durchaus zu erkennen und nicht wenigen Zeitgenossen auch bewusst war, das die in dem Band dokumentierte Kontroverse zwischen Rusconi und Afflerbach so interessant macht.
Angesichts dieser divergierenden Interpretationsangebote, die über den italienischen Fall hinaus grundlegende Fragen der Kriegsentscheidungen von 1914/15 aufwerfen, verblassen die anderen Beiträge des Bandes ein wenig. Nichtsdestotrotz halten auch sie so manche interessante Einsicht parat. So zeigt Nicola Labanca in einem als Forschungsüberblick zur italienischen Militärgeschichte des Ersten Weltkriegs gestalteten Beitrag das ganze Ausmaß der Fehleinschätzungen, mit denen die italienische Armeeführung ihre Truppen im Frühjahr 1915 ins Feld schickte, und die mit zu den schweren italienischen Niederlagen zu Beginn des Krieges und zur Erstarrung der Front auch auf diesem Kriegsschauplatz führten. Realistischere Einschätzungen wie zum Beispiel die des italienischen Militärattachés in Berlin, Luigi Bongiovanni, die Holger Afflerbach in einem zweiten von ihm verfassten Beitrag untersucht, verpufften in Rom aber offenbar ohne größere Wirkung.
Differenzierungen bieten die beiden abschließenden Beiträge zur Kriegsgesellschaft im Trentino bzw. in Südtirol. Während Vincenzo Calì das durchaus heterogene Lager der italienischen bzw. italienischsprachigen Interventionalisten untersucht, widmet sich Oswald Überegger den Stimmungen und Kriegswahrnehmungen in Tirol. Im Anschluss an die Relativierungen, die vor allem für Deutschland das Bild von der euphorischen Stimmung des "Augusterlebnisses" erfahren hat, geht er auch für Tirol von von Anfang an zwiespältigen Haltungen zum Krieg aus. "Unabhängig von der Vielfalt individueller Kriegsdeutungen" scheint ihm dabei "die in weiten Teilen der Bevölkerung herrschende große Unsicherheit" die "Stimmungs- und Gefühlslagen am unmittelbarsten zu reflektieren." (119) Auf der anderen Seite verstärkte der Krieg aber auch in Tirol bzw. im Trentino jene "Sozialisierung der Gewalt", die schon vor 1914 zu beobachten ist, und die nach 1915 die "allgemeine Gewaltbereitschaft" in den sich immer "kontroverser darstellenden nationalen und sozialen Auseinandersetzungen" weiter steigerte. (130)
Man muss Holger Afflerbachs Feststellung, wonach der italienische Kriegseintritt "eines der zentralen politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts" (53) gewesen sei, nicht in seiner ganzen Vehemenz übernehmen. Nicht nur muss offen bleiben, ob die Mittelmächte ohne die italienische Kriegsteilnahme die Niederlage, wie Afflerbach es nahe legt, hätten vermeiden können. Auch ist die "Sozialisierung der Gewalt" mit und nach dem Ersten Weltkrieg in ganz Europa nicht ursächlich mit der italienischen Entwicklung verbunden, auch wenn sie dort mit dem Faschismus früh zu autoritären und teilweise totalitären politischen Strukturen führte. Doch nicht nur angesichts der in diesem Sammelband präsentierten Ergebnisse täte die internationale Forschung sicher gut daran, den Kriegseintritt vom Mai 1915 stärker als bisher als europäisches Ereignis wahrzunehmen, das wegen seiner außenpolitischen Bezüge wie seiner gesellschaftlichen Folgen für das Schicksal des gesamten Kontinents mit entscheidend geworden ist.
Anmerkungen:
[1] Z.B. Gerhard P. Groß (Hg.): Die vergessene Front: Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, Paderborn u.a. 2006.
[2] Holger Afflerbach: Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg (= Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs; Bd. 92), Wien u.a. 2002.
Friedrich Kießling