Anne Löchte: Das Berliner Journal 1859-1918. Eine deutschsprachige Zeitung in Kanada, Göttingen: V&R unipress 2007, 228 S., ISBN 978-3-89971-370-1, EUR 38,90
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Anne Löchtes im Rahmen eines einjährigen, von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsaufenthalts am Waterloo Centre for German Studies in Ontario/Kanada entstandene Arbeit zum Berliner Journal suggeriert im Titel zunächst eine presse- und medienhistorische Studie zu einer der wichtigsten deutschsprachigen Zeitungen im Nordamerika des 19. Jahrhunderts. Den Leser erwartet jedoch keine presse- und mediengeschichtliche Studie, sondern die Analyse des Berliner Journals als Quelle für deutsche Einwanderung und deutsch-kanadische Identität in Ontario zwischen 1859 und 1918. Eine Form- und Sprachanalyse, eine systematische Untersuchung von Herstellungsprozessen, Informationsquellen, Vertrieb, Marketing, Kommerzialität, Rezeption und Ähnlichem fehlen völlig. Allerdings liefert Löchte einen Überblick über die Auflagenentwicklung, Programme und Intentionen des Blattes (13-16). Anne Löchtes Arbeit vermittelt einen "Überblick über Geschichte und Inhalte des Berliner Journals [...], zum anderen soll es Forschern durch die Erfassung hunderter Artikel als Orientierungshilfe" bei der Nutzung des Berliner Journals als historischer Quelle dienen (5).
Die Inhaltsanalyse der Zeitung konzentriert sich auf acht, sich teilweise überschneidende Themenkreise des Berliner Journals, nämlich Reiseberichte, Reproduktion und Kritik deutsch-amerikanischer Stereotypen, die Aufrechterhaltung und Pflege der deutschen Sprache, Deutschunterricht an den Schulen, Literatur, Gedichte und fiktive Leserbriefe, Einwanderungsthemen, deutsch-kanadisches Leben in Berlin/Ontario, deutsche Politik im Spiegel des Berliner Journals und den Ersten Weltkrieg. Im Anhang finden sich die Liste der im Berliner Journal erschienenen Autoren und ihrer Werke und fiktive Leserbriefe im Pennsylvaniadeutschen Dialekt.
Im ersten Kapitel liefert Löchte eine kurze Geschichte und einen Überblick über die Inhalte des Berliner Journals inklusive kurzer Biographien der Gründer der Zeitung John Motz und Friedrich Rittinger. Die wöchentlich erscheinende Zeitung kam zunächst mit einer Auflage von 600 Stück heraus. 1909 hatte die Zeitung mit 5.000 Abnehmern ihre höchste Auflage erreicht. Die Zeitung sollte zwischen 1859 und 1899 vor allem der Orientierung von deutschen Neusiedlern in Ontario dienen: Einführungen in das kanadische Munizipalsystem, Erklärung von Begriffen des kanadischen Rechtssystems, die Übersetzung eines kanadischen Verfassungsentwurfs, Berichte über Ackerbauausstellungen und Gerichtsprozesse sollten Neusiedler mit den Verhältnissen in Ontario vertraut machen. Für die zweite Einwanderergeneration waren diese Themen nach 1899 weniger relevant, wie die Abnahme "deutscher Themen" bis 1914 zeigt. Zwar hatte sich die Zeitung auch nach 1899 der Pflege des "Deutschthums" verschrieben, doch blieb es hier im Vergleich zur Zeit vor 1899 eher bei "Lippenbekenntnissen" der zweiten Herausgebergeneration. Die "deutsche Frage" wurde erst wieder mit Beginn des Ersten Weltkriegs virulent.
Löchte zeigt, dass die Herausgeber und Redakteure in den 1870er Jahren ein teilweise sehr distanziertes Verhältnis zu ihrer alten Heimat Deutschland hatten und damit - genauso wie in der "Lobpreisung" des "Lands der Freiheit" (31) - Gründe für die Auswanderung nach Kanada lieferten bzw. die Emigration nachträglich rechtfertigten - ein wichtiger Schritt für die Herausbildung einer neuen, eben nicht mehr nur deutschen, sondern deutsch-kanadischen neuen (und alte Elemente integrierenden) Identität. Integration war jedoch nur ein Element, das den Herausgebern des Berliner Journals wichtig gewesen zu sein scheint. Von Anfang an warnten Artikel vor dem Verlust der deutschen Sprache und mahnten ihre Leser, sich nicht ihrer deutschen Herkunft, Sprache und Kultur zu schämen (55-79). Der Verlust der deutschen Identität schien sich - so das Berliner Journal - vor allem in der Abnahme des Deutschunterrichts in Ontario und dem Verlust bzw. der "Kreolisierung" der deutschen Sprache (ein Begriff, den Löchte nicht verwendet) widerzuspiegeln.
Zur Belastungsprobe angesichts der Versuche des Berliner Journals, die deutsche Identität ihrer Leser wahren zu helfen, wurde der Erste Weltkrieg, in der das Blatt immer wieder vor der Zerreißprobe zwischen Loyalität gegenüber Kanada und der Pflege des "Deutschthums" stand. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in dem die "doppelte Identität" der deutschstämmigen Siedler in Ontario von englischsprachigen Siedlern zunehmend als "Verrat" angesehen wurde, mussten sich nicht nur die Zeitung, sondern auch ihre Leser eindeutig für Kanada entscheiden, was den Verlust ihrer deutschen Identität beschleunigte, ein typisches Phänomen für Einwanderer in Kriegszeiten. Das Berliner Journal hatte folglich mit Absatzschwierigkeiten zu kämpfen, da sich sein Leserkreis durch "zwanghafte" Assimilierung zunehmend reduzierte. Als Bildungsinstrument oder kulturelle Zeitung verstanden die Herausgeber ihre Zeitung nicht (15). Doch eine Zeitung, die, wie Anne Löchte zeigt, einen erheblichen Teil ihrer Spalten der Pflege der deutschen Sprache, Kultur und Identität und deren Integration in Kanada verschrieb, war letztendlich ein Medium, das durchaus als "kulturelle Zeitung" verstanden werden kann.
Inwieweit das Berliner Journal Anteil an der Herausbildung einer gemeinsamen kulturellen Identität von Deutschen, Schweizern, Österreichern und deutschsprachigen Mennoniten aus Pennsylvania in Ontario hatte, lässt sich allein an der Untersuchung dieser Zeitung nicht herausarbeiten. Explizit diskutiert werden Prozesse der Identitätsbildung in der Emigration in Löchtes Studie nicht. Eine Auseinandersetzung mit Studien zu Ethnizität und Identitätsbildung wie etwa Benedict Andersons Immagined Communities, Sauers und Zimmers A Chorus of Different Voices oder Lauterbachs, Pauls und Sanders Abgrenzung - Eingrenzung fehlt völlig. [1] Auch sonst ist die Auswahl der benutzten Literatur eher etwas "dünn" ausgefallen. Wichtige neuere Literatur zur deutschen Einwanderung in Kanada, Sprache, Literatur und auch zum Berliner Journal findet sich in der Bibliographie nicht. [2]
So deskriptiv Anne Löchtes Arbeit in vielen Bereichen bleibt; sie könnte - wie Löchte dies selbst im Vorwort formuliert - ein Baustein für die weitere Beschäftigung mit Pressewesen und Identitätsbildung deutschsprachiger Einwanderer in Kanada und den U.S.A werden.
Anmerkungen:
[1] Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London / New York 1991; Frank Lauterbach / Fritz Paul / Ulrike-Christine Sander (Hgg.): Abgrenzung - Eingrenzung. Komparatistische Studien zur Dialektik kultureller Identitätsbildung, Göttingen 2004; Angelika E. Sauer / Matthias Zimmer: A Chorus of Different Voices: German-Canadian Identities (= American University Studies. Series IX, History 189), New York 1998. Siehe auch Kogila Moodley: State Responses to Immigration in Culturally Homogeneous and Multicultural Societies. Comparative Perspectives (= Lectures and Papers in Ethnicity 20), Toronto 1996.
[2] Siehe u.a. Jonathan Frederick Wagner: A history of migration from Germany to Canada, 1850-1939, Vancouver u.a. 2006; Katharina Bärbel Bum: Die Sprache der Anzeigenwerbung im Berliner Journal: Eine Analyse ausgewählter Anzeigen von 1859-1918. Master's thesis, University of Waterloo 2004; Kate Burridge: Pennsylvania German: Where Culture and Language Meet: The Question of Language Survival: Changes within Its Grammar as Enactments of Anabaptist World View. Edna Staebler Research Fellowship Project 1997, Kitchener/ON 1998; Lori Theresa Heffner: Heritage Languages: The Case of German in Kitchener-Waterloo. Master's thesis, University of Waterloo 2002; William D. Keel / Klaus Mattheier (Hgg.): German Language Varieties Worldwide: Internal and External Perspectives = Deutsche Sprachinseln weltweit: Interne und externe Perspektiven, Frankfurt am Main 2003; Marc André Koschel: Sprachkontakt in Kanada: Ethnizität und Sprachverwendung unter Kanadadeutschen in Waterloo County, Ontario (1996-1998). Master's thesis, Universität Mannheim 1999; Michal Krynicki: Mennonitisches Niederdeutsch in Südontario. Eine Studie zur Sprache und Geschichte einer Religionsgemeinschaft, Pońnan 1998; Manfred Prokop / Gerhard P. Bassler: German Language Maintenance across Canada. A Handbook, Sherwood Park/ALTA 2004; Kerstin Steiger: Deutsch-Englisches Code-switching zur Kontextualisierung von Emotionalität, Perspektivik und Bewertungen. Master's thesis, University of Waterloo 2000; Roy Anthony Rempel: Counterweights. The Failure of Canada's German and European Policy, 1955-1995, Montreal 1997.
Susanne Lachenicht