Torben Lütjen: Karl Schiller (1911-1994). "Superminister" Willy Brandts (= Historisches Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung. Reihe: Politik- und Gesellschaftsgeschichte; Bd. 76), 2. Aufl., Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2008, 403 S., ISBN 978-3-8012-4172-8, EUR 34,00
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Ein Bundeswirtschaftsminister verfügt über keine allzu großen Kompetenzen und deshalb ist das Amt in der Bundesregierung auch nicht von maßgeblicher Bedeutung. Von den bisher zwölf Amtsinhabern sind die meisten bereits der Vergessenheit anheimgefallen. Lediglich drei haben tiefere Spuren hinterlassen, wobei der Name von Otto Graf Lambsdorff weniger wegen seiner Leistungen als Wirtschaftsminister denn als Betreiber des "Machtwechsels" von 1982 und wegen seiner Verwicklungen in die sogenannte Flick-Affäre in Erinnerung geblieben ist. Ludwig Erhard hingegen, der erste Bundeswirtschaftsminister, gilt bis heute als der Begründer der sozialen Marktwirtschaft und als Vater des "Wirtschaftswunders". Und auch Karl Schiller, Bundeswirtschaftsminister der Großen Koalition von 1966 bis 1969 und im ersten Kabinett Willy Brandt, hat als Wirtschaftspolitiker weitreichende Bedeutung erlangt: Er ist derjenige, der - im Zusammenwirken mit Franz Josef Strauß - Ende der 1960er Jahre eine antizyklische Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik durchgesetzt hat.
Der in Breslau geborene Karl Schiller, der in seinen ersten elf Lebensjahren an ganz unterschiedlichen Orten wohnte, entstammte einfachen Verhältnissen. Hohe Intelligenz mit Fleiß verbindend machte er in Kiel als Klassenbester das Abitur. Danach studierte er von 1931 bis 1935 Volkswirtschaftslehre, das Studium schloss er mit der Promotion ab. Danach arbeitete er bis 1942 am Institut für Weltwirtschaft in Kiel und war anschließend bis 1945 Soldat. Nach dem Krieg wechselte er zwischen Wissenschaft (Institut für Weltwirtschaft, Universität Hamburg) und Politik (Wirtschaftssenator in Hamburg und in Berlin). Zugleich machte er sich einen Namen als wirtschaftspolitischer Experte der SPD. Lange vor der Verabschiedung des Godesberger Programms prägte er den Satz: "Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig."
Als Vertrauter Willy Brandts übernahm er 1966 das Amt des Bundeswirtschaftsministers und stieg zum Star der Großen Koalition auf. Das Stabilitätsgesetz von 1967, die "Konzertierte Aktion", die "mittelfristige Finanzplanung" und damit den wirtschaftspolitischen Erfolg der Großen Koalition verstand er mit seinem Namen zu verbinden. Auch bei der Bundestagswahl von 1969 spielte Schiller eine herausgehobene Rolle, so dass gar von einer "Schiller-Wahl" gesprochen wurde. Mit der Bildung der sozialliberalen Koalition begann der Abstieg Schillers. Als Wirtschaftsminister und ab Mai 1971 als Wirtschafts- und Finanzminister scheiterte er innerhalb kurzer Zeit: im Konflikt mit den Ressortministern und mit seiner eigenen Partei, die zum großen Teil eine grundsätzlich andere Richtung in der Wirtschafts- und Finanzpolitik (Systemveränderung) einzuschlagen wünschte. Im Juli 1972 demissionierte Karl Schiller und führte im Herbst mit Ludwig Erhard einen Wahlkampf gegen seine eigene Partei. Eine politische Rolle hat Schiller danach nicht mehr gespielt.
Torben Lütjen hat eine Biografie vorgelegt, die ihrem "Helden" weitgehend gerecht wird und alles in allem jederzeit die richtige Balance zwischen Nähe und Distanz zu Karl Schiller hält. Es gelingt ihm, die Qualitäten Schillers, der über beträchtlichen wirtschaftspolitischen Sachverstand verfügte und in der Beurteilung wirtschaftlicher Zusammenhänge seinen Mitstreitern und Opponenten meist überlegen war, ebenso deutlich herauszuarbeiten wie dessen Defizite, nämlich Schillers überzogene Eitelkeit und seine Unfähigkeit, dauerhafte persönliche Beziehungen aufzubauen. Wirkliche Freunde hatte er nicht und seine ersten drei Ehen scheiterten. Die Biografie selbst ist gut geschrieben und bisweilen auch spannend zu lesen. Dabei fällt allerdings auf, dass die interessantesten Zitate, darüber hinaus auch immer wieder wesentliche Handlungsabläufe Pressedarstellungen, meistens dem "Spiegel" entnommen, sind. Auch Partien, die auf Interviews mit Zeitungen beruhen, nehmen einen großen Raum ein. In beiden Fällen hat sich der Rezensent öfter die Frage gestellt, ob ein kritischerer Umgang mit diesen Quellen nicht angebracht gewesen wäre.
Am Ende sollen noch zwei Aspekte behandelt werden, die sich dem Rezensenten bei der Lektüre aufgedrängt haben. Zum einen Fragen, die mit der NSDAP-Mitgliedschaft Karl Schillers und seiner Tätigkeit am Institut für Weltwirtschaft im "Dritten Reich" zu tun haben, zum anderen ein Vergleich der beiden Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und Karl Schiller. Lütjen betont wohl mit Recht, dass Karl Schiller trotz seiner Parteimitgliedschaft kein "ideologisch überzeugter Nationalsozialist" gewesen sei (71). Er fügt aber hinzu, dass "eine mehr als nur zufällige Schnittmenge mit den Ideen der Nationalsozialisten" bestanden habe (73). Dies lässt sich u.a. bei bestimmten wirtschaftspolitischen Auffassungen feststellen. So hatte Schiller seine Dissertation über "Arbeitsbeschaffung und Finanzordnung" geschrieben, die er selbst als eine "finanz- und konjunkturpolitische Untermauerung der nationalsozialistischen Arbeitsbeschaffung" interpretierte (60). Zudem leitete er ab 1940 eine Arbeitsgruppe am Institut für Weltwirtschaft, die Gutachten für das Oberkommando der Wehrmacht verfasste und damit die Kriegführung unterstützte. Nach dem Krieg hat Karl Schiller diese Zeit weitgehend verdrängt. Obwohl seine Belastung von ähnlicher Qualität wie die Kurt Georg Kiesingers war, die in der Öffentlichkeit immer wieder skandalisiert wurde, hat die Presse über Karl Schillers Vergangenheit wenig bis nichts berichtet. Es ist im Rückblick schon befremdlich, wie selektiv in der Öffentlichkeit mit der NS-Vergangenheit von führenden Politikern in der Bundesrepublik umgegangen worden ist.
Ludwig Erhard und Karl Schiller, die unzweifelhaft bedeutendsten Bundeswirtschaftsminister, waren keine Politiker. Es waren Wissenschaftler, die mehr oder weniger zufällig auf die politische Bühne gelangt waren. Beide waren in ihren Parteien nicht verankert, besaßen daher keine Hausmacht und scheiterten in dem Augenblick, als der Erfolg ausblieb beziehungsweise eine Mehrheit in der Partei andere Ziele verfolgte. Historisch wirkungsmächtiger ist Ludwig Erhard gewesen, dessen Konzept der "sozialen Marktwirtschaft" sich langfristig durchgesetzt hat. Die wirtschaftspolitischen Konzepte Karl Schillers hingegen besaßen nur temporäre Bedeutung. Das Keynesianische Modell der antizyklischen Konjunkturpolitik und die Überzeugung von Planbarkeit wirtschaftlicher Abläufe verschwanden bald von der politischen Agenda, da sie sich als Trugschlüsse erwiesen hatten.
Udo Wengst