Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen: Wallstein 2005, 555 S., ISBN 978-3-89244-936-2, EUR 48,00
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Mit Verve formuliert Hirschi die Ausgangsthese seines Buches, einer in Freiburg im Üechtland bei Volker Reinhardt entstandenen Dissertation: Nationalismus als zentraler Ordnungsbegriff politischen Denkens sei kein Kind der Moderne, wie dies vor allem von der angelsächsischen Forschung betont wird. An der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit sei vielmehr in Deutschland unter humanistischen Gelehrten ein Kategorien- und Argumentationsraster entstanden, das in der Verschmelzung von patria- und natio-Diskurs eine Dynamik generiert, die schlussendlich in die "Ideologisierung der Nation zu einer autonomen und universalen Kategorie" (63), so seine bündige Definition von Nationalismus, mündet. Eines in diesem Fall "vormodernen Nationalismus", der "in Abgrenzung zum modernen Nationalismus einen Diskurs, der nur für gewisse Vertreter der Bildungselite autonome Geltung hatte", bezeichnet (44).
Im Leitmotiv der Nation als Ehrgemeinschaft findet Hirschi ein die Humanisten beherrschendes doppeltes agonales Prinzip, das zum einen Abgrenzung und Konkurrenz zwischen den Nationen beförderte und zementierte, zum anderen innerhalb der Nation die Humanisten sich selbst zu überlegenen Sachwaltern einer normativen Ordnung erheben ließ, welche den traditionellen ständischen Ordo überwand und zu neuen Formen nunmehr überständischer Kollektivbildung unter nationalem Signum vorstieß. Zwar zieht Hirschi keine platt deterministische Kontinuitätslinie vom vormodernen zum modernen Nationalismus. Aber, so sein Schluss, "der Erfolg des modernen Nationalismus beruht maßgeblich darauf, dass die Nationskonstruktion schon in der Vormoderne stabile Wahrnehmungsmuster geschaffen hat" (501).
Dies in aller Kürze zu Anliegen und argumentativem Grundmuster der Studie. Methodisch ist sie einer flexiblen Kombination von Diskursanalyse und Ideologiebegriff verpflichtet. Dies erlaube die Betrachtung der Nationskonstruktion unter dem doppelten Blick auf "konstante Leitmotive des Nationsdiskurses und ihre variable soziopolitische Verwendung" und auf "die Dynamik der fortwährenden Konstruktion, Dekonstruktion und Neukombination des Nationalen in Abhängigkeit von sozialem Wandel" (55f.). Jenen doppelten Blick hält der Autor beim Blick aufs Material konsequent durch. Die Analyse der Texte, in denen er die Motivelemente nationalistischen Denkens findet, verkoppelt er argumentativ geschickt mit dem Blick auf das sozial- und politikgeschichtliche Bedingungsgefüge für die Entstehung einer humanistischen Elite als Trägerschaft einer neuen natio-Rhetorik in Deutschland, in der er eben jene Motivelemente findet.
Den materiellen Ausgangspunkt seiner Untersuchung bildet freilich die Frage nach der semantischen Entwicklung von 'patria' und 'natio' die er in europäischer Perspektive vom Hochmittelalter bis hin zur ihrer Integration in die deutsche Reichsdebatte des 15. Jahrhunderts verfolgt (77-174). Durchaus bekannt ist hierbei die Hervorhebung der Rolle des Konstanzer Konzils als Ort "nationaler Wettkampfrhetorik". Darin finden sich Voraussetzungen für den schrittweisen Übergang - etwa über den deutschen Kirchenreformdiskurs als Ausgangspunkt "nationaler Romfeindschaft" - zur wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Instrumentalisierung des Redens über die Nation als Instrument überterritorialer - monarchischer - Integration des Reiches durch die habsburgische Propaganda unter Friedrich III. und Maximilian I. in Gestalt des Aufbaus in die Vergangenheit fortgeschriebener nationaler Antagonismen angesichts außenpolitischer Bedrohungssituationen.
Diese Propaganda ruhte in radikalisierter Weise auf der humanistischen Debatte um 'patria' und 'natio' auf, deren Entfaltung in Italien und Deutschland Hirschi in den Mittelpunkt der Kapitel 3 und 4 stellt. Zunächst verfolgt er die Entwicklung der italienischen Humanisten seit Petrarca zu einem politisch-kulturellen Raumbegriff, der schließlich den zivilisatorisch-normativen Suprematie-Anspruch Italiens gegenüber transalpiner 'Barbarei' deutlich profiliert. Hier bewegt sich der Autor auf bereits weitgehend gesichertem Forschungsterrain. Auch dort, wo er auf die Wahrnehmungsveränderung gegenüber diesem Raumkonstrukt durch die deutschen Humanisten zu sprechen kommt. Zunächst getragen von der 'imitatio' des italienischen Vorbildes mutiert sie zur 'aemulatio' - oder sollte man nicht besser sagen: 'abiectio', zu einem agonalen Abwehr- und Emanzipationsdiskurs, in dessen Zentrum ein Katalog von nationalen Ehrbegriffen steht, in dem sich die deutschen Humanisten zu Sachwaltern der Ehre und der 'Freiheit' im nationalen Binnendiskurs stilisieren?
In diesem Statusanspruch manifestiert sich laut Hirschi das sozialgeschichtliche Mutationspotential innerhalb der überkommenen Ständeordnung, indem die Humanisten ein "Konzept des Verdienstadels [...] propagierten", das "im Habitus des städtischen Wirtschaftslebens verankert" war. "Dieses reichsstädtische Bewusstsein weiteten die Humanisten zum nationalen" (366f.). Diese Aussage besticht zwar durch ihre Prägnanz, bedarf aber doch zur über die bloße These hinausgehenden Kraft weiterer Erörterung, die deutlicher mit den inzwischen fortgeschrittenen Forschungen zum reichsstädtischen Normenkonzept verklammert ist.
Das fünfte Kapitel wendet sich dem Nationsdiskurs im Zeitalter Karls V. und der Reformation zu. Zentral steht hier die Feststellung, dass sich der weitgehend einheitliche Nationsdiskurs der deutschen Humanisten in spezifische konfessionelle und reichsständisch-fürstliche Gruppenmuster ausdifferenziert. Die Ergebnisse der Untersuchung sind insgesamt überzeugend. Insbesondere dort, wo auf die Umwertung des nationalen Freiheitsbegriffs in den Privilegien-Diskurs von der 'teutschen Libertät' durch die Reichsfürsten verwiesen wird (406) oder wo die konfessionellen Politikkonzepte partikulare Interessen in den Vordergrund stellen, welche die reichisch-integrativen Implikationen des humanistischen Nationsbegriffes konterkarieren (485-489). Hier will es dem Rezensenten so scheinen, als breche die nationale Leitmotivik denn doch in einer so fundamentalen Weise ab, dass die Schlussbehauptung Hirschis von den "stabilen Wahrnehmungsmustern" der vormodernen Nationskonstruktion, auf denen "der Erfolg des modernen Nationalismus" maßgeblich beruhe, problematisch wird. Dort ein deutliches Fragezeichen setzen zu müssen, schmälert indes nicht die hohe Anerkennung für die höchst fruchtbare Aufgabe, der sich das Buch stellt.
Hirschi setzt mit seiner Untersuchung kräftige Akzente in der gegenwärtig durchaus florierenden Debatte um die Genese des Nationsbegriffes und seine Wirkung auf den Nationalismus als ideologisierte Überhöhung der 'Nation' zur verabsolutierten Basismaxime der gedachten Ordnung des politischen und gesellschaftlichen Gefüges der europäischen Welt und des daraus resultierenden Handelns. Hier die spezifischen Bedingungen des humanistischen Diskurses im Reich an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit für eine solche Ideologisierung in materieller Breite und argumentativer Tiefe auszuleuchten, ist eine bewundernswerte Leistung. Freilich schießt er über das Ziel hinaus, wenn er den Eindruck erweckt, mit dem Begriff des 'vormodernen Nationalismus' eine absolute terra incognita betreten zu haben. Schon 1979 hat ihn der Osteuropahistoriker Rudolf Jaworski eingeführt und gefordert, mehr Aufmerksamkeit auf die "vermittelnden Zwischenfelder" zwischen Mittelalter und Moderne zu verwenden. [1]
Gleichwohl beackert Hirschi jene Zwischenfelder mit einem tiefschürfenden analytischen Pflug und deckt dabei Wurzeln nationalistischer Rhetorik in einer Weise auf, die dazu anregen muss, die Grenzen zwischen Mediävistik, Frühneuzeit- und Neuzeitforschung zur Einlösung eines zentralen Forschungsdesiderates noch durchlässiger werden zu lassen. Beantwortet ist die Frage nach der zeitgenössischen Wirkmächtigkeit und vor allem nach den Vermittlungswegen von spätmittelalterlich-frühneuzeitlichem 'Nationalismus' in die Moderne auch mit dem Buch von Hirschi noch nicht. Dazu liegen die Trittsteine der Quellenbefunde seit dem späten 16. Jahrhundert doch recht weit auseinander. Aber mit dem für eine Dissertation außergewöhnlichen Mut zu einer prägnant erkenntnisleitenden These und deren souveräner Zuführung auf die Quellen hat der Autor einen argumentationslogisch überzeugenden Ausgangspunkt für die weitere Forschung formuliert. Dass die stilistische Brillanz des Buches, welche das nie ermüdende intellektuelle Engagement des Autors untermauert, die Lektüre überdies zu einem außerordentlichen Vergnügen macht, verdient eigene Erwähnung.
Anmerkung:
[1] R. Jaworski: Zur Frage vormoderner Nationalismen in Ostmitteleuropa, in: Geschichte und Gesellschaft 5 (1979), 398-417, hier 411.
Olaf Mörke