Linda Fritzinger: Diplomat Without Portfolio. Valentine Chirol, His Life and The Times, London / New York: I.B.Tauris 2006, 567 S., ISBN 978-1-84511-186-1, GBP 27,50
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Jeder, der sich mit der britischen Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg beschäftigt, kommt früher oder später mit der Person Valentine Chirols in Kontakt. Als ausgebildeter Diplomat (1872-1876), Berliner Korrespondent (1892-1896), Schriftleiter der außenpolitischen Abteilung der Times (1899-1912), als Publizist und Experte in allen fern-, mittel- und nahöstlichen Fragen spielte er immer wieder eine prominente Rolle bei der Bewertung und Einflussnahme britischer Außenpolitik vor 1914. Dennoch ist bis heute nicht viel über ihn bekannt. Diese Lücke schließt nun die Biographie Linda B. Fritzingers, die sich nach ihrer unveröffentlicht gebliebenen Dissertation 1992 über Chirols Zeit in Berlin [1] nun ausführlich mit seinem Leben beschäftigt und dabei auf weltweit, nicht nur in Großbritannien, den USA, Deutschland und Frankreich, sondern auch in Australien aufgespürte Archivalien zurückgreift.
In einem klassisch biographischen Ansatz nähert sie sich Chirol über seine familiäre Herkunft, seine Ausbildung in Frankreich und Deutschland während der Einigungskriege und des deutsch-französischen Feldzuges (3-17), über seine Reisen um die Welt (17-48) und seine Jahre als Korrespondent in der dynamischen Spreemetropole Anfang der 1890er Jahre (49-88). Chirol verstand sich selbst nicht nur als Kommentator und Journalist, sondern immer als Teil der diplomatischen Elite Londons, die auch aktiv Politik gestaltete. Als Schwerpunkt fällt dabei vor allem die Orientierungssuche Britanniens zwischen Deutschland und Russland ins Auge. Von Beginn an und aufgrund seiner Reiseerfahrungen war Chirol besonders deutschfreundlich und russlandkritisch eingestellt und unterhielt vor allem zu Friedrich von Holstein beste Beziehungen. Anders als sein Londoner Schriftleiter, Donald Mackenzie Wallace, plädierte er besonders nach dem französisch-russischen Zweibund für eine gleichgewichtige Politik der Annäherung an den Dreibund. Fritzinger kann zeigen, dass es in der deutschfreundlichen Haltung Chirols zwar durch die Episode um die Krüger-Depesche Kaiser Wilhelms II. zu einem ersten Bruch kommt, dieser aber nicht so nachhaltig und endgültig ausfiel, wie es von einigen Diplomaten und Journalistenkollegen immer wieder geschildert worden ist (79). [2] Noch immer überwog die Abneigung gegenüber dem Zarenreich und noch im November 1901, selbst unter den Eindrücken der Anglophobie in der deutschen Öffentlichkeit wegen des Burenkrieges, kam er bei einer erneuten Reise nach Berlin zu dem Befund, dass sich Deutschland vollkommen korrekt verhalte und im Gegenteil, vielmehr mehrfach von Salisbury hintergangen worden sei (160-162). Erst als er sich drei Tage später wieder in seiner Londoner Umgebung akklimatisiert hatte, veröffentlichte er wütende Attacken gegen das Kaiserreich. Plötzlich war er wieder von den zahllosen Berichten des neuen Korrespondenten, George Saunders, über die deutsche Anglophobie eingenommen, die er bei seinem Aufenthalt an der Spree offenbar überhaupt nicht so wahrgenommen hatte.
Besonders interessant wirkt die Einschätzung, dass er dank seiner orientalischen Erfahrungen besonders russlandkritisch eingestellt war. Deutschland hatte ihn persönlich enttäuscht, aber Russland bildete die eigentliche zivilisatorische Gefahr der Zukunft (168-273). Für das 20. Jahrhundert sah er einen Ost-West-Konflikt voraus, auf den es sich vorzubereiten galt. Im Idealfall plädierte er für einen Kurs der Stärke gegenüber Sankt Petersburg, sollte dies aber nicht zu finanzieren sein, so bliebe nur die Beschwichtigung, um wenigstens Zeit zu gewinnen. Eine enge Anlehnung an den transatlantischen Partner war ihm dabei selbstverständlich. Von Deutschland erwartete er dabei eine Juniorpartnerschaft, wie beispielsweise bei der Annexionskrise deutlich wird, bei der er von Berlin eine Maßregelung Österreich-Ungarns erwartete (356). Als selbstverständlich gilt hier der Tenor der überwiegenden Forschung, dass Berlin hinter der Wiener Aggression auf dem Balkan stand, während Russland nur die Großmachtträume Serbiens bzw. London dessen Rechte als Kleinstaat verteidigte. Ebenso erscheint der Weg in den Krieg nicht nur vorgezeichnet, sondern maßgeblich von deutschen Verfehlungen bestimmt (383-472).
Aus der Perspektive Chirols, der nach seiner Kampagne gegen die anglo-deutsche Kooperation bei der Bagdadbahnfrage im Jahre 1903, gänzlich ins Lager der Gegner Deutschlands übergewechselt war (187-190), klingt dies alles sehr überzeugend, ist exzellent recherchiert und beruht auf einer enormen Quellenbasis. Zudem gelingt es Linda Fritzinger, ihren Lesern Valentine Chirol stilistisch ansprechend näher zu bringen und ist, wie so viele Arbeiten angelsächsischer Provenienz, den sprachlich oft etwas hölzern wirkenden wissenschaftlichen Arbeiten aus Deutschland turmhoch überlegen und bietet phasenweise ein richtiges Lesevergnügen. Dabei wird im Vergleich zu ihrer unveröffentlichten Dissertation, die lediglich die Zeit Chirols als Berliner Korrespondent zwischen 1892 bis 1896 behandelt, deutlich, dass sich ihr Buch an ein breiteres Publikum wendet.
Der mit einem wissenschaftlichen Anspruch ausgestattete Leser bleibt indes nach der Lektüre etwas ratlos zurück, denn allzu oft merkt man der Biographie auch eine fehlende Distanz zu ihrem Gegenstand an, wenn sie sich etwas zu positivistisch von den Wahrnehmungen Chirols gefangen nehmen lässt und sich zu wenig kritisch und analytisch mit seinen Aussagen auseinandersetzt. So werden häufig Chirols Eindrücke über das Krüger-Telegramm (79), die Bundesrath-Affäre (129f.), das vermeintliche Ende der inzwischen bereits oftmals angezweifelten Splendid Isolation (167), oder die Annexionskrise (354-356), die Flottenrüstung (360f.) und einige andere historische Begebenheiten kommentarlos übernommen. Ob es sich dabei zuweilen vielleicht auch um Fehlperzeptionen handelte, wird ebenso wenig untersucht, wie die Frage nach den politischen oder propagandistisch-medialen Hintergründen der Northcliffe-Presse. [3] So übersieht Fritzinger, dass es z.B. zur Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn oder zum Flottenrüsten zwischen Deutschland und England etwa von der radikalliberalen Zeitschrift The Nation oder dem Manchester Guardian auch gänzlich andere Äußerungen als die Chirols und der Times gegeben hat und gerade ihm eine zu starke anti-deutsche Parteilichkeit vorgeworfen wurde. [4] Dass er gerade zu Beginn des Jahrhunderts, wie Fritzinger zuerst ganz richtig herausgearbeitet hat, eine eher pro-deutsche und anti-russische Orientierung vertreten hatte, wird dagegen gegen Ende der Arbeit nicht wieder aufgegriffen und harrt somit weiter einer Erklärung.
Insgesamt erscheint Chirol somit mehr als ein "Spectator of Events" denn als mitwirkender "Diplomat without portfolio" und seine massive Einflussnahme beispielsweise bei der Bagdadbahnfrage, der Konventionspolitik Edward Greys oder in der Venezuelakrise, die leider gänzlich ausgelassen wird, wirken eher als Ausnahmen. Die traditionelle Deutung der relativen Autonomie britischer Außenpolitik erscheint trotz der vielen gegenteiligen Hinweise, die Fritzinger aufgespürt hat, damit weiterhin gültig. [5]
Insgesamt bleibt das Fazit, dass es sich bei der Biographie Valentine Chirols um eine wunderbar lesbare Studie handelt, die vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, anders als die vorausgegangene Dissertation, leider etwas unter den durch sehr viel Fleiß zusammengetragenen archivalischen Möglichkeiten bleibt. Nichtsdestotrotz schließt die Autorin eine Lücke im Verständnis britischer Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg.
Anmerkungen:
[1] Linda Brandt Fritzinger: Diplomat without Portfolio. Valentine Chirol of The Times in Berlin, 1892-1896, unveröffentlichte Dissertation, New York University 1992.
[2] Paul Kennedy: The Rise of the Anglo-German Antagonism, 1860-1914, London 1980, passim. Zuletzt bei Dominik Geppert: Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen (1896-1912), München 2007, 102f. Vgl. hierzu die Rezension von Matthias Stickler in dieser Ausgabe (http://www.sehepunkte.de/2008/06/13293.html)
[3] Ebd.
[4] Zur Kritik an Chirol und dem Regierungskurs sind die zahllosen Kommentare des Manchester Guardians und der Nation zwischen 1907 und 1909 zu beachten. Z.B.: Manchester Guardian, 26.9.1907. The Nation, 6.2.1909.
[5] Zara Steiner / Keith Neilson: Britain and the Origins of the First World War, London 2003.
Andreas Rose