Christina Kiaer: Imagine No Possessions. The Socialist Objects of Russian Constructivism, Cambridge, Mass.: MIT Press 2005, 344 S., ISBN 978-0-262-11289-5, USD 39,95
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Maria Gough: The Artist as Producer. Russian Constructivism in Revolution, Oakland: University of California Press 2005
Wie das gleichzeitige Erscheinen zweier Studien zu dieser künstlerischen Bewegung zeigt, steht der russische Konstruktivismus dank seiner utopischen Qualität seit Jahren im Zentrum des westlichen, links-intellektuell konditionierten Blickes. Christina Kiaers "Imagine no possessions. The socialist object of Russian Constructivism" unterscheidet sich dabei sowohl methodisch als auch in der Auswahl des Materials so stark von Maria Goughs "The Artist as Producer" [1], dass sich die Lektüre beider lohnt - nicht zuletzt, weil dadurch noch einmal deutlich wird, wie komplex der behandelte Gegenstand ist.
Kiaers Studie basiert auf ihrer 1995 an der University of California, Berkeley vollendeten Dissertation. Das Interesse der Autorin an den politischen und sozialen Aspekten des Konstruktivismus verrät die geistige Nähe zu ihrem Doktorvater Timothy James Clark, während sie in der entschiedenen Bevorzugung der psychoanalytischen Methodik einen eigenen und zuweilen eigensinnigen Weg einschlägt. Kiaer formuliert das Ziel ihrer Untersuchung wie folgt: "The proposal of this book is that the transparency of the Constructivist object was not just material, but also psychological, offering the flash of critical understanding of mass culture under NEP that would be necessary for waking up from the commodity phantasmagoria of capitalism into the future socialist culture" (38). In den Interpretationen einzelner Werke scheint sie allerdings über das selbst gesteckte Ziel hinaus zu schießen, wenn sie beispielsweise behauptet, die geometrischen Stoffmuster von Popowa und Stepanowa symbolisierten deren unterdrückte sexuelle Identität (130, 132), während sie Majakowskij eine orale (185) und Rodtchenko eine anale Fixierung (219) bescheinigt. Paul Wood kritisiert an diesem Vorgehen zu Recht, "it is difficult if not impossible to tell if the protagonists - Mayakovsky and Rodchenko in this case - are supposed to be demonstrating knowledge of psychoanalytic theory and deploying it to get the message across [...], or whether they are in the grip of these drives and as such hopelessly mired in the crap they claim to be rising above". [2]
Kiaers Buch gehört in eine Reihe von unlängst erschienenen Publikationen über die russische Avantgarde, die vom erleichterten Zugang zu den Archiven nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu Beginn der 1990er Jahre profitiert haben. [3] Eine der Stärken von Kiaers Untersuchung bildet deswegen auch die sinnvolle Auswahl der von ihr herangezogenen archivalischen Bilddokumente. So arbeitet sie mit historischen Fotografien, die zu ethnografischen Zwecken gemacht wurden, mit 'populärem' Bildmaterial aus den Printmedien oder mit Filmstills. Wenn sie Vladimir Tatlins Ofenentwurf neben ein Foto eines typischen Ofens in einer Arbeiterwohnung von 1925 oder Ljubow Popowas Kleidentwurf neben ausländische Mode-Muster aus einer sowjetischen Frauenzeitschrift stellt, gelingt es ihr, die konstruktivistischen Entwürfe in ihrer uns meist unbekannten Alltagsrealität zu verorten. Damit wird die jeweils spezifische utopische Qualität dieser Entwürfe verstehbar, die erst aus dem Spannungsverhältnis des imaginierten Neuen zum vorhandenen Alten entsteht: Ignorieren die konstruktivistischen Dinge ihre Vorläufer, wollen sie ihre Umgebung mit radikalen Mitteln transzendieren oder nehmen sie den status quo als Ausgangspunkt für eine langwierige Transformation?
Eine weitere Stärke von Kiaers Darstellung des Konstruktivismus ist die Einbindung des künstlerischen Materials in die gleichzeitige Diskussion der marxschen These vom Fetischcharakter der Ware im Kapitalismus. Für die produktivistischen Theoretiker stellt sich die Frage, wie das sozialistische industriell hergestellte Ding seiner Fetischisierung entgegen arbeiten könnte. Im russischen Kontext verbindet sich diese Frage mit der traditionellen Verachtung des byt, des materiellen, trägen und 'niedrigen' Alltags, und dem Versuch, diesen in ein novyi byt (etwa: neues Leben) zu überführen. Kiaer versteht die konstruktivistischen Dinge als Modelle sozialistischer Objekt-Genossen (2), die zur Umformung des byt quasi aktiv beitragen sollten.
Die Autorin geht der Problemstellung und den konstruktivistischen Lösungsvorschlägen in sechs Kapiteln nach. Das erste Kapitel, "The socialist object", fungiert als Einleitung in den Begriff des sozialistischen Objekts, seine Ursprünge, seine Situierung in der Zeit der semi-kapitalistischen NEP (Neue Ökonomische Politik) sowie in seine Theoretisierung durch Boris Arvatov. Die darauffolgenden vier Kapitel stellen jeweils einen Aspekt der konstruktivistischen Gestaltung dar: Kapitel 2, "Everyday objects", analysiert Tatlins pragmatische Entwürfe von einfachen Alltagsobjekten; Kapitel 3, "The Constructivist flapper dress", beschäftigt sich mit den modischen Stoffmustern und Kleiderentwürfen von Popowa und Stepanowa; Kapitel 4, "Constructivist advertising and Bolshevik business", behandelt Vladimir Majakowskijs und Alexander Rodtchenkos Werbung für staatliche Produkte; Kapitel 5, "Rodchenko in Paris", schließt die Reihe mit der Weltausstellung 1925 ab, auf der Rodtchenko sein Modell eines Arbeiterklubs präsentierte. Das letzte Kapitel, "Epilogue: The last possession", stellt das zensierte Theaterstück "Ich will ein Kind haben" von Sergej Tretjakow vor, in dem die humane Reproduktion als eugenische Produktion imaginiert wird.
Damit diskutiert Kiaer nicht nur alle Bereiche der konstruktivistischen Gestaltung, sondern - und das ist ein weiterer problematischer Aspekt ihrer Arbeit - zwingt diese unter die vermeintliche "Productivist theory of the socialist object-as-comrade" (2) oder "coworker" (27). Nicht nur hypostasiert sie dabei die Position von Boris Arvatov und Rodchenko zu "der" konstruktivistischen Theorie der sozialistischen Objekte, ohne dabei auf das Denken anderer Konstruktvisten einzugehen (dabei wäre es durchaus interessant zu erfahren, was beispielsweise Nikolai Tarabukin oder Boris Kuschner zur Frage des 'sozialistischen Objekts' geäußert haben). Sie bedient sich zudem einer Terminologie von 1925, um Produktentwürfe zu bezeichnen, die einige Jahre zuvor entstanden sind, ohne dieses Vorgehen zu rechtfertigen, und deutet ausnahmslos alle konstruktivistischen Dinggestaltungen als der Idee des "Objekt-Genossen" verpflichtet. Zuweilen scheint diese vereinheitlichende Tendenz mit dem spürbaren Willen der Autorin zusammenzuhängen, eine besonders originelle Interpretation des Konstruktivismus zu liefern. Die bemühte Originalität kann im Detail unfreiwillig komisch wirken, wenn beispielsweise Tatlins misslungener Topfentwurf mit einem seiner Konter-Reliefs verglichen wird (83). Doch auch trotz mancher Schwächen und spekulativer Momente bietet Kiaers Buch genug instruktives Material und pointierte Analysen, um seine Lektüre zu empfehlen.
Anmerkungen:
[1] Maria Gough: The Artist as Producer. Russian Constructivism in Revolution, Berkeley / Los Angeles / London 2005. Vgl. meine Rezension des Buches in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 12; URL: http://www.sehepunkte.de/2006/12/11254.html
[2] Paul Wood: Orbiting Atlantis, review, in: Art Journal 65, no. 3 (2006), 112-117.
[3] Exemplarisch genannt seien hier Nina Gurianova: Exploring color. Olga Rozanova and the early Russian avant-garde, 1910-1918, Amsterdam 2000; Andrei Nakov: Kazimir Malewicz. Le peintre absolu. 4 Bde., Paris 2006 und Jane Ashton Sharp: Russian modernism between East and West. Natal'ia Goncharova and the Moscow avant-garde, New York 2006.
Magdalena Nieslony