Jacob Rosenthal: "Die Ehre des jüdischen Soldaten". Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen (= Campus Judaica; Bd. 24), Frankfurt/M.: Campus 2007, 227 S., ISBN 978-3-593-38497-9, EUR 29,90
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Auf der Frontseite des Buches sieht man den Vater des Autors im Feldgrau der deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs abgebildet, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz. Der Autor Jacob Rosenthal wurde 1922 in Nürnberg geboren, emigrierte 1939 nach Palästina und die Geschichte, die er erzählt, ist auch die Geschichte seines Vaters. Dass diese persönliche Dimension nicht vollends neutralisiert wird, ist nicht zum Schaden des Werkes, einer im hohen Lebensalter verfassten Dissertation.
Die "Judenzählung" im Ersten Weltkrieg markierte, wie oft betont worden ist, einen Einschnitt in der Geschichte des Antisemitismus in Deutschland. Sie hat schon mehrfach eine Schilderung gefunden, wird hier, nunmehr Gegenstand einer Monografie, aber nicht nur breit dokumentiert, sondern auch im Hinblick auf die gravierenden Nachwirkungen weiterverfolgt, die sie auf die Situation der Juden in der Weimarer Republik besaß, mit Ausblicken auf die NS-Zeit und die Bundesrepublik. Die Zählung der Angehörigen jüdischer Konfession im Heeresdienst war Ende 1916 mit der Begründung durchgeführt worden, es sollten die sich häufenden Vorwürfe der "Drückebergerei" überprüft werden, die beim preußischen Kriegsministerium eingegangen waren. Es war dies ein eklatanter Verstoß gegen das Gleichbehandlungsprinzip und wurde von den Betroffenen zu Recht als schwerer Affront begriffen. Dass die Ergebnisse der Erhebung nie veröffentlicht wurden, nährte noch weiter den Verdacht. Nach Kriegsende gelangten bald, lanciert von antisemitischer Seite, Zahlen an die Öffentlichkeit, die - irreführend, wie sie waren - eine vergiftende Wirkung auf das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden entfalteten. Dass schon seit 1915 vonseiten der jüdischen Organisationen eine eigene Statistik der Kriegsteilnehmer geführt und auf die antisemitischen Vorwürfe mit Gegenschriften und -statistiken geantwortet wurde, konnte dagegen wenig ausrichten. Nach 1918 war der Streit um die jüdische Kriegsbeteiligung ein wesentlicher Bestandteil des Kampfes um die Deutungshoheit in der Frage, wer die Schuld an der Niederlage trage ("Dolchstoßlegende"), wer in das ehrenhafte Gedenken an die Opfer des Krieges einzubeziehen war (und wie) und wem damit letztlich eine Teilhabe an der residualen Sinnstiftungskraft des Krieges zuerkannt werden sollte und wem nicht.
Rosenthal untersucht nicht nur die antisemitischen Hintergründe, er beleuchtet ebenso die Reaktionen von jüdischer Seite. Das diplomatisch-behutsame Vorgehen, das die offiziellen Vertreter der jüdischen Organisationen bei ihrem Protest gegen die Zählung wählten, hält er insgesamt für zu samtpfötig und in der Rückschau auch für weniger angemessen als die Drohung des jüdischen Bürgertums in Frankfurt am Main, sich künftig bei Sammlungen und Kriegsanleihen zurückzuhalten. In der Weimarer Republik bildete das "Gedenkbuch" des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten von 1932 mit seinen rund 11.000 alphabetisch aufgelisteten Gefallenen jüdischer Herkunft den Endpunkt der jüdischen Gegenwehr, der stets aus der Defensive heraus geführt werden musste.
Eines der übergeordneten Themen, in das sich die "Judenzählung" einordnen lässt, ist das Problem der Diskriminierung jüdischer Soldaten in der deutschen Armee, das pars pro toto wiederum für die Ungleichbehandlung jüdischer Bürger in zahlreichen anderen Lebensbereichen genommen werden kann. Rosenthal illustriert diese Diskriminierungspraxis anhand der Nichtberücksichtigung jüdischer Soldaten bei der Ernennung zum Offizier, die nur zu Beginn des Weltkriegs kurzzeitig durchbrochen wurde. Wie auch schon von anderen Autoren wird die "Judenstatistik" geradezu als präventiver Akt gedeutet, um einem vonseiten des preußischen Offizierstands nicht gewollten und bisher auch noch immer erfolgreich verhinderten Eintritt von Juden in das Offizierskorps nach Kriegsende vorzubeugen. In der Tat waren im Berufsheer der Weimarer Republik Juden noch weniger gelitten als zuvor. Umfassend die Diskriminierungspraktiken im Kriegs- und Frontalltag jüdischer Soldaten zu untersuchen, also die Erfahrungsebene der vielfach beschworenen Schützengrabengemeinschaft noch stärker zu beleuchten, hätte einen anderen Quellenzugriff verlangt und lag auch nicht in der Absicht des Autors.
Drei Befunde werden insgesamt besonders herausgestrichen: 1) Die "Judenzählung" war international ein singulärer Akt. 2) Sie besaß tiefgreifende Nachwirkungen auch in den Jahren der Weimarer Republik. 3) Sie kann deshalb nicht als unglücklicher Zwischenfall, sondern muss als Scheidelinie begriffen werden. Anders als Werner T. Angress, der die "Judenzählung" mehr als Symptom verstanden hat, in dem der schon bestehende Antisemitismus einen eher episodischen Ausdruck fand, sieht Rosenthal in ihr weit über den Weltkrieg hinaus einen fortwährenden Kristallisationspunkt der Entfremdung zwischen Juden und Deutschen und ein Menetekel für die Zeit nach 1933.
Dass man da und dort die neuere Forschung zur Geschichte des Ersten Weltkrieges vermisst und des Öfteren statt sehr langer Zitatpassagen eine stärkere Interpretation der Quellen gewünscht hätte, fällt nicht allzu sehr ins Gewicht gegenüber dem Gesamteindruck, dass die "Judenzählung" und ihre Folgen hier eine umfassende, bisweilen eindringliche Darstellung gefunden haben, die Respekt verdient.
Wilfried Rudloff