Christopher Herrmann: Mittelalterliche Architektur im Preußenland. Untersuchungen zur Frage der Kunstlandschaft und -geographie (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 56), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2007, 816 S., ISBN 978-3-86568-234-5, EUR 135,00
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Untersuchungs- und Dokumentationsgegenstand dieser in jeglicher Hinsicht "schwergewichtigen" Publikation ist die "öffentliche Architektur" im Land des Deutschen Ordens (7). Dabei erfolgte eine programmatische Konzentration auf die Kerngebiete des einstigen Ordensstaates im nordöstlichen Europa. Es handelt sich um die Territorien der 1243 gegründeten preußischen Bistümer Kulm, Pomesanien, Ermland und Samland (hier nicht zu verwechseln mit dem territorialen Eigenbesitz der Bischöfe und Domkapitel). Diese vier Diözesen boten sich als historische Konstanten an, da ihre Grenzen und Binnenstrukturen von etwa der Mitte des 13. Jahrhunderts bis 1525 weitgehend unverändert blieben, d.h. bis zur Einführung der Reformation und der Bildung eines Herzogtums anstelle des durch einen mönchisch-ritterlichen Orden beherrschten Staatsgebildes. Im Zentrum stehen selbstverständlich die Massivbauten bzw. Backsteinbauten, voran die Kirchen, Burgen und Rathäuser. Deren Entwicklung und differenzierte Ausprägung innerhalb des eingangs skizzierten zeitlichen und geografischen Rahmens hat der Autor C. Herrmann instruktiv dokumentiert, beschrieben und erläutert.
Schon die dokumentarische Arbeit, die diesem Werk zugrunde liegt, ist höchst respektabel und erheischt Anerkennung. Mehrere Jahre intensiven, z.T. auch beschwerlichen Wirkens wurden von Herrmann allein darauf verwendet, die Fülle der Bauobjekte komplett zu erfassen und ausgiebig in den analytischen Blick des Forschers zu nehmen. Die Reihe der von ihm in den rund 480 Seiten starken Katalog des Buches aufgenommen Gebäude umfasst 345 Kirchen, 66 Burgen und 15 Rathäuser (320-797). Hinzu kommen noch etliche nicht katalogisierte Bauwerke, die der Autor in seine Untersuchungen einbezogen hat, weshalb auch sie im Band erscheinen. Besonderes Augenmerk legte Herrmann dabei auf die ländlichen Pfarrkirchen im Ordensland, weil diese Baugruppe, trotz ihrer großen Anzahl, bisher von der Forschung und Publizistik relativ vernachlässigt wurde. Fast 60 Prozent der im Buch dokumentierten Denkmäler sind Dorfkirchen und zu manchen von ihnen bietet Herrmann erstmals eine kunsthistorisch fundierte Beschreibung und Analyse. Zusammen mit der Beschreibung des gegenwärtigen Erhaltungszustands wurden auch die nachmittelalterlichen Veränderungen an den Bauten registriert. Etliche neue Informationen sind aus genauen Beobachtungen am Mauer- und Dachwerk der Kirchen gewonnen worden, die an manchen Bauten das erste Mal vorgenommen wurden.
Über die Schwerpunkte, Zielsetzungen und Methoden der Untersuchung werden die Leser im Eingangskapitel ausführlich informiert (9-24). Generell stellte der Autor typologische Aspekte in den Mittelpunkt seiner Recherchen, die er in eine systematische Bautypologie fasst, welche ein Ergebnis der vergleichenden Auswertung aller gesammelten Fakten und gewonnenen Erkenntnisse über sämtliche Gebäude ist. Priorität innerhalb des Themenspektrums haben dabei die Entwicklung und Herausbildung von Grundrisstypen und Baukörpern, die Verwendung bestimmter Dekorationssysteme sowie die Eigenschaften des Baumaterials in Korrespondenz mit den angewandten Bautechniken und Dekorationsweisen. Der Herkunft, Verbreitung und den Abwandlungen von Bau- und Dekorformen, auch außerhalb der preußischen Bistümer, wurde gleichfalls nachgegangen. Weiterhin galten die Bemühungen einer möglichst exakten Datierung der Bauten wie einzelner Bauteile. Ebenso wurde eine Bewertung der architektonischen Qualität vorgenommen. Auch die Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen, die Religionspraxis sowie die wirtschaftlichen und demografischen Verhältnisse wurden in der Studie gebührend berücksichtigt und thematisiert, sofern sie das Baugeschehen maßgeblich beeinflusst hatten.
Vor allem die letztgenannten Aspekte weisen auf eine Fragestellung hin, der sich C. Herrmann in seinen Untersuchungen dezidiert gewidmet hat. Es geht darum, ob die "Kunst- und / oder Architekturlandschaft" als wissenschaftliche Kategorie der modernen Kunstgeschichte erfolgreich angewendet werden kann bzw. ob der Versuch, solche Landschaften heute definieren zu wollen, fachlich überhaupt Sinn macht und zu neuen, gehaltvollen Resultaten führt (18). Die Auseinandersetzung mit dem Terminus "Landschaft" steht ja seit kurzem wieder im Brennpunkt der Forschungsdiskussion. Herrmanns Studie und Dokumentation stellt auch ein Votum für diese Kategorie dar, denn seine Arbeitsergebnisse, bedachtsam verallgemeinert und in Hypothesen gefasst, überzeugen. Aus dem, was der Verfasser mit seinem Buch an vorzüglich systematisierten Faktenmaterial, Erläuterungen und Deutungen offeriert, ergibt sich für die zentralen Gebiete des Deutschen Ordens das klar umrissene, aber auch facettenreiche Bild einer autonomen Architekturlandschaft des hohen und späten Mittelalters, deren Bauten über bestimmte gemeinsame Merkmale bzw. typische Kennzeichen verfügen. Der Verfasser scheut sich nicht, von einem "preußischen Stil" zu sprechen, der sich im Verlauf der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts in den Betrachtungsgebieten entwickelt habe, dem eine "späte Stilphase" respektive der "späte Stil" in der Architektur Preußens folgte (291-294). Diese etwas gewagte Anwendung solcher Stilbegriffe steht aber bei den Erörterungen eher im Hintergrund. Wichtiger ist dem Autor die Bestimmung der hier konstitutiv wirkenden architektonischen Dominanten. Diesen geht Herrmann nach und auf den Grund, soweit es die Quellenlage und die gesicherten Fakten zulassen. Der Autor fragt nach den Ursachen und Begleitumständen ihrer Genese, wobei er z.B. Überlegungen zu den Relationen zwischen baulichen Typen- und Formausprägungen und eines auf der "Kolonisation" basierenden Staats- und Gesellschaftswesens anstellt oder die Spezifika einer "Deutschordens-Architektur" in Bezug zur Herkunft der Siedler und Bauleute, zu deren sozialem Milieu und ihrer Zugehörigkeit zu den pruzzischen, polnischen und deutschen Bevölkerungsgruppen mit Bedacht diskutiert. Der Verfasser selbst hält sich dabei streng an die Fakten und setzt sich zugleich sachlich-kritisch mit den Interpretationen und Thesen anderer Fachvertreter auseinander.
Gemäß seinem zentralen Anliegen und methodischen Ansatz bietet der Verfasser einen Exkurs zur "Kunstlandschaft, Kunstgeographie und Kolonialkunst", in dem er die dazu wichtigsten Deutungsmuster und Positionen innerhalb der deutschen, österreichischen und polnischen Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts Revue passieren lässt sowie auf die permanenten Problem- und Streitpunkte zu diesem Themenspektrum verweist (25-39). Dazu gehört etwa das Ansinnen, topografisch bestimmte "Raumstile" neben den "Zeit- und Personalstilen" zu etablieren und "Kunstschulen" auszuweisen, die primär ethnisch und geografisch definiert sind. Hier erwähnt Herrmann beispielsweise Kurt Gerstenberg (1886-1968), der 1922 bezüglich großer kunstgeschichtlicher Einheiten bzw. Kategorisierungen von "weit übergreifenden Kunstgemeinschaften" sprach (26). Dahinein spielt auch das Phänomen lokaler und regionaler Stilausprägungen und solcher, die als national oder international charakterisiert wurden. Doch erhielt die wissenschaftlich begründete Kunstgeografie, wie sie sich seit dem frühen 20. Jahrhundert herausgebildet hatte, dann eine starke völkisch-nationale und biologistische Ausrichtung. Gerade in Deutschland wurde sie ideologisch und mythisch aufgeladen sowie politisch instrumentalisiert. Dies wird vor allem in der kunstgeschichtlichen "Ostforschung" während der NS-Diktatur evident und fand seinen Niederschlag etwa im Schrifttum von Dagobert Frey (1883-1962), welcher als Protagonist eines ethnischen und geografischen Determinismus bereits hinsichtlich der Kunst des Mittelalters eine Entwicklung "nationaler Stile" konstatierte. So konnte es nicht ausbleiben, dass nach 1945 die Kunstgeografie als Methodik auf große Skepsis und breite Ablehnung stieß. Jedoch erschienen, wie Herrmann feststellt, auch weiterhin etliche Publikationen, die auf kunstgeografischen Überlegungen basieren. Mehrfach verweist der Autor auf Hans Erich Kubach (1909-1999), einer Kapazität auf diesem Gebiet, der ausgiebig über Kunstlandschaften reflektiert hat und dessen letzte, 1989 und 1997 veröffentlichten Arbeiten dazu sehr aufschlussreich sind. [1] Mit Kubach geht Herrmann in mancherlei Hinsicht konform, indem er sich z.B. dessen Fazit nach rund sechs Jahrzehnten Forschung zu eigen macht, das knapp formuliert so lauten kann: Die Existenz von Kunstlandschaften ist beweisbar, ebenso gibt es bei der mittelalterlichen Baukunst räumlich-geografische Zusammenhänge, aber wie diese zustande kommen, muss aufgrund der Quellen- und Faktenlage weitgehend offen bleiben. Brauchbare Resultate bei der Anwendung einer kunstgeografischen Methodik, so Herrmann, erbringt ein solide empirische Arbeitsweise, das nüchtern-sachliche Erfassen möglichst aller betreffenden Bauobjekte, deren Einordnung in sinnvoll strukturierte typologische Gruppen, das Herausfiltern ihrer Verbreitungsräume und das Nachvollziehen der Entwicklungswege von Werken sowie Einzelmotiven. Konsequent setzt Herrmann diese Prämissen als Forschungs- und Publikationskonzept um. Die Fülle der hierzu gesammelten Fakten erscheint bei ihm in strenger Systematik und mit anschaulicher Prägnanz. Sein Band enthält eine Vielzahl von Tabellen und Diagrammen unterschiedlichen Typs, diverse Grafiken, die z.B. Grundrissparallelen und Formenreihungen zeigen, sowie etliche thematische Karten. Hinzu kommen Reproduktionen historischer Orts- und Gebäudeansichten sowie Fotos, von denen die jüngsten 2007 aufgenommen wurden. Gerade eine derartig ambitionierte tabellarische und grafische Informationsweitergabe in der Kombination mit anderen "visuellen Elementen" erweist sich als ein adäquates Medium für die vom Autor gewählte Methodik. Jedenfalls wurden diese Mittel durch ihn optimal eingesetzt. Als Instrumentarien verwendete Herrmann u.a. ein rechnergestütztes geografisches Informationssystem (GIS, Arc View) und eine Microsoft-Datenbank (Access 97). So, wie das Faktenmaterial in dem Band geordnet, visualisiert und publizistisch dargeboten wird, dürfte für große Teile dieser Publikation auch der Begriff einer kunsthistorischen Baudenkmäler-STATISTIK zutreffen. Schon die zahlenmäßige Erfassung und die auf sie gestützten Untersuchungen und Auswertungsverfahren führten bei manchen Aufgabenbereichen zu guten Ergebnissen, etwa beim Entdecken und Rekonstruieren von Verbreitungs- und Transformationsprozessen in der Architektur oder bei der Bemessung des Bauaufkommens, dem Ausweisen von Konjunktur- und Stagnationsphasen im Baugeschehen. Wenn sich damit auch nicht komplexe Fragestellungen zum Kirchen- und Burgenbau im Deutschordensland beantworten lassen, wie dies Herrmann selbst relativierend bemerkt (298), so bieten die statistisch gewonnenen Informationen doch eine verlässliche Grundlage für tiefer gehende Überlegungen. Diese hat der Autor auch zu attraktiven wie strittigen "Dauerthemen" innerhalb seines Forschungsgebiets angestellt. Er äußert sich etwa dazu, ob die Marburger Elisabethkirche für den Deutschen Orden nun eine prononciert vorbildliche Bauschöpfung gewesen sei oder nicht. Herrmann verneint dies mit triftigen Argumenten, genauso wie er konstatiert, dass es für eine Vorbildwirkung der Kathedrale von Lincoln auf den Bau der Jakobikirche der Thorner Neustadt eigentlich keine überzeugenden Indizien gebe. Auch die alte These vom stilprägenden Einfluss der hochmittelalterlichen Sakralarchitektur Westfalens auf den Kirchenbau im Deutschordensland kann für Herrmann nur eine vage Vermutung sein, welche kaum haltbar ist, und dies nicht nur deshalb, weil sie faktisch nicht bewiesen werden kann. Gleiches trifft, so der Autor, für das Postulat zu, der Zisterzienserorden hätte mit seinen Bauten in Preußen zur Herausbildung und Verbreitung charakteristischer Formen entscheidend beigetragen, die landesweit zum architektonischen Standardrepertoire wurden. Zur Herleitung des vierflügeligen Kastelltyps im Fortifikationsbau des Deutschen Ordens und über die Genese der Sterngewölbe, zwei weiteren vorrangigen Forschungsthemen, verfasste Herrmann gleichfalls instruktive Unterkapitel.
Auf Herrmanns Erörterungen zur Bauhüttenthematik sei noch ausdrücklich verwiesen. Nach Auswertung aller infrage kommender Schriftquellen kam Hermann zu dem Ergebnis, dass es Bauhütten, wie sie auf Großbaustellen in den Hausteingebieten bestanden, im Preußenland höchstwahrscheinlich nie gegeben hat. Keine der seit etwa Mitte des 14. Jahrhunderts vorhandenen Texte, ob Handwerkerverträge, Baurechnungen oder Korrespondenzen, enthalten den geringsten Anhaltspunkt, geschweige denn einen Beweis, für die Existenz einer Bauhütte im Land des Deutschen Ordens. Gegenteilige Äußerungen, so Hermann, sind reine Spekulation oder Tatsachenbehauptungen (138). Dabei muss streng zwischen dem hochkomplexen Betrieb einer spätmittelalterlichen Bauhütte und den an Bauvorhaben beteiligten Werkstätten unterschieden werden. Im Preußischen wurden fast durchweg Werkstätten aus den dortigen Städten tätig mit Handwerkern und Meistern ("magistri") an ihrer Spitze, die fest in Zünften bzw. Gewerken organisiert waren. Hinzu kamen saisonale Arbeitskräfte, überwiegend auch Einwohner Preußens, deren Fluktuation relativ hoch war. Eine wichtige Rolle bei sakralen Bauprojekten spielte die "fabrica" ("fabrica ecclesia"). Ihr gehörten engagierte Laien aus den Reihen der Stifter an, die als "Kirchenväter" bzw. "Vertrauensmänner" ("provisores laici") zentrale Aufgaben der Organisation, Verwaltung und Finanzierung übernahmen, was etwa die Anschaffung von Werkzeugen und Baumaterialien einschloss (146-147). Etwas anders beschaffen sind die "Domfabriken" gewesen, z.B. jene in Kulmsee, Marienwerder und Frauenburg. Sie waren selbstverständlich mit Klerikern besetzt, hatten die Interessen gleich mehrerer verschiedener Stiftergruppen wahrzunehmen und tätigten finanzielle Transaktionen größeren Umfangs.
Bei den meisten seiner kritisch abwägenden und interpretierenden Aussagen wird eine konträre Grundposition des Autors deutlich, die sich gegen abstrakte Denkmodelle wendet, welche "man den Werken und Werkgruppen von oben herab überstülpt" (298). Dies hat oft mit der Verabsolutierung und Überbewertung einiger weniger Schriftquellen zu tun. Herrmann argumentiert seinerseits, dass die Eingebundenheit markanter Motive und repräsentativer Bauformen in soziale, gesellschaftliche und ökonomische Gegebenheiten nicht automatisch bedeuten müsse, diese würden politisch-ideologische Aussageabsichten visualisieren.
Mit dem Band liegt eine umfassende Dokumentation vor, die den Baufundus streng systematisch erfasst und präsentiert. Dabei wurde auch auf den Informationsgehalt und die Aussagekraft des Bildmaterials gesetzt. Der Verlag von Michael Imhoff hat ein entsprechend opulent ausgestattetes Werk ediert, das 1454 Abbildungen enthält und stolze 4, 5 Kilo auf die Waage bringt. Möglich wurde diese aufwendige Edition durch die Unterstützung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung und dank der Zusammenarbeit mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen. Mit seinem Band hat der Autor auch einen Beitrag zur forschungskritischen Debatte über den Begriff der Kunst- bzw. Architekturlandschaft erarbeitet, der die Potenziale und möglichen Perspektiven einer mit diesem Terminus verbundenen Methodik aufweist. Diese wird hier nicht im Sinne eines geschlossenen Systems verstanden und angewendet, sondern ist flexibel, d.h. für Modifikationen und konstruktive Eingriffe offen.
Anmerkung:
[1] Der Raum Westfalen in der Baukunst des Mittelalters, in: Der Raum Westfalen. Fortschritte der Forschung und Schlussbilanz, Münster 1989, 131-159; H. Kubach / I. Köhler-Schommer: Romanische Hallenkirchen in Europa, Mainz 1997.
Michael Lissok