Gudrun Jäger / Liana Novelli-Glaab (Hgg.): ...denn in Italien haben sich die Dinge anders abgespielt. Judentum und Antisemitismus im modernen Italien (= Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge; Bd. 2), Berlin: trafo 2007, 289 S., ISBN 978-3-89626-628-6, EUR 27,80
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Die vergleichende Faschismusforschung, aber nicht nur sie, steht vor dem Problem, dass die Judenverfolgung in Italien und Deutschland völlig unterschiedliche Formen aufwies; entsprechend unvergleichlich sind die Opferzahlen. Von einem geradezu intrinsischen und, wie neue Forschungen zum nationalsozialistischen Deutschland betonen, von großen Teilen der Bevölkerung unterstützten Antisemitismus kann im italienischen Fall nicht die Rede sein. Entsprechend herrscht in Italiens öffentlichem Bewusstsein sowieso, aber auch weithin in der Forschung die Vorstellung, dass die Judenverfolgung von Deutschland aufgezwungen und insgesamt harmlos, weil nach Kräften sabotiert worden sei. "Italiani brava gente" lautet die Formel, mit der das Land seiner faschistischen Vergangenheit begegnet und die Welt glaubt ihm fast unwidersprochen.
Wissenschaftler, italienische und namentlich auch deutschsprachige, haben all das seit ungefähr zwei Jahrzehnten als Selbstbetrug entlarvt, finden damit aber nur in Fachkreisen - und bei der jüdischen Minderheit natürlich - Gehör. Der hier zu besprechende Sammelband gibt die Beiträge zu einem vom Fritz-Bauer-Institut, dem Romanistischen Seminar der Universität Frankfurt und, bemerkenswerterweise, dem Italienischen Kulturinstitut Frankfurt veranstalteten Studientag wieder, die das deutsche Publikum mit dem Stand der Forschung vertraut machen wollen. Gut die Hälfte der Texte befasst sich deshalb mit der Zeit seit 1922 und bezieht die Nachkriegszeit mit ein. Hierin liegt der größte Neuigkeitswert, denn die Vorgänge vor 1945 sind auch von anderer Seite in deutscher Sprache behandelt worden.
Daran gemessen fehlt dem ersten Teil etwas der innere Zusammenhang. Denn die nahe liegende Frage ist ja, ob die 1938 einsetzende Verfolgung eine Vorgeschichte hat. Überraschenderweise trägt die erste Sektion die Überschrift "Die antijüdische Tradition". Zu ihr zählen judenfeindliche Bilder in der (sakralen) Kunst des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, die von der Autorin, Francesca Fabbri, als vergleichsweise wenig herabsetzend bewertet werden, weil die mittelalterliche "Judensau" fast durchweg fehle. Implizit heißt das, dass es schon damals in Italien nicht so schlimm gewesen ist. Es sei aber der Hinweis erlaubt, dass die ursprünglich große jüdische Gemeinde bis auf geringe Reste aus Italien vertrieben worden ist und dass die Märtyrerbilder des Trienter Knaben Simone, der 1475 angeblich das Opfer eines jüdischen Ritualmordes wurde, Bestandteil der italienischen Volkskultur bis ins 19. und 20. Jahrhundert waren und in Trient noch heute zu sehen, wenn auch seit Neuestem mit einer klarstellenden Tafel versehen sind. Zur antijüdischen Tradition zählt ferner die päpstliche Politik gegenüber der jüdischen Minderheit im Kirchenstaat von 1823 bis 1870; Aram Mattioli präsentiert das bekannte Material im Vergleich zu David Kertzer wohltuend nüchtern.
Die zweite Sektion gilt dem Nationalstaat vor 1922 und ist mit "Integration und Ausgrenzung" überschrieben. Von Ausgrenzung im liberalen Italien war bislang nichts bekannt, hier scheint also endlich das "Missing Link" zwischen frühneuzeitlicher und faschistischer Judenfeindschaft aufgedeckt. Doch die Ausgrenzung betrifft die jüdische Frau in der bürgerlichen Gesellschaft und das hat absolut nichts mit dem Thema zu tun. Es bleibt also bei der rätselhaften Diskontinuität. Ulrich Wyrwa wird bei seiner Suche nach dem Antisemitismus, einer Zusammenfassung seiner andernorts publizierten sorgfältigen Untersuchungen, nur bei der Kirche fündig. Weil diese aber im liberalen Königreich keinen Einfluss auf die politischen und sozialen Eliten gehabt hat, habe sich auch der Antisemitismus als 'kultureller Code' nicht entfalten können. Wenn das mal kein Irrtum ist. Die katholische Volkskultur Italiens verdiente schon lange eine Untersuchung im Stile Olaf Blaschkes und auch die nun endlich zugänglichen (wohl gesäuberten) Akten des Vatikans müssten Anlass sein, die mutigen Forschungen Giovanni Miccolis zu ergänzen. Die Randstellung des modernen, biologisch begründeten Rassismus ist angesichts der Stellung der Naturwissenschaften in Italien keine Überraschung. Dass aber der kirchliche Antijudaismus aufgrund des offiziellen Laizismus von den Italienern im Laufe von vierzig Jahren einfach abgefallen sein soll, ist sehr unwahrscheinlich. Wyrwa hält die Suche nach dem "Missing Link" für unrealistisch. Catalans Beitrag zu der jüdischen Minderheit im liberalen Nationalstaat enthält insofern einen Hinweis, als er feststellt, dass der Staat sich für sie überhaupt nicht interessiert habe. Die judenfeindliche Propaganda hat er nicht bekämpft, denn Minderheiten gab es für die Liberalen einfach nicht.
Die dritte Sektion gilt den "Juden im Faschismus". Michele Sarfatti, ein vorzüglicher Kenner der jüdischen Geschichte jener Zeit, klärt über die "italienische Besonderheit" auf: faschistische Juden und faschistischen Antisemitismus. Auch bei den Faschisten war der Anteil jüdischer Aktivisten überproportional hoch, was er mit der ausgeprägten Teilnahme der Minderheit am politischen Leben erklärt. Im hohen Anteil der Juden bei der antifaschistischen Opposition liegt nach Meinung der neueren Forschung ein Schlüssel zur Erklärung der Wende Mussolinis. Den Umschlag lässt Sarfatti bereits 1928/29 beginnen, als Mussolini für Insider klar erkennbar die (winzige Zahl der) italienischen Zionisten angriff. Hinzuzufügen wäre, was keiner der Autoren tut, die Wirkung des 1929 abgeschlossenen Konkordats, das dem Katholizismus - und seinem Antijudaismus - Einfluss auf den Staat einräumte. Jüdische Faschisten sprangen Mussolini bei, aber, so Sarfatti, dieser zeigte auf dem Höhepunkt seiner Popularität kein Interesse an der Unterstützung durch Juden. Das hätte Letztere stutzig machen müssen, doch waren sie so stark "nationalisiert" (Sarfatti lehnt den Terminus "assimiliert" ab), dass sie alle unheilvollen Vorzeichen übersahen. Fabio Levis Beitrag liefert die Fortsetzung, er schildert die Verfolgung bis 1943, teils darüber hinaus. Die Verfolgung war hart, die Zahl der Opfer hoch, stellt er wie die gesamte neueste Forschung fest. Dass nicht noch mehr Juden Opfer wurden, sei nicht dem Eingreifen des 'guten Italieners' zu verdanken, sondern der "langen Tradition der Manipulation [...] der Gesetze und Institutionen." (168) Solidarität sei erst nach dem 8. September 1943 zu beobachten, als die Lage der jüdischen Landsleute eine Folge der Abhängigkeit von Deutschland zu sein schien; die Resistenza habe das genauso gesehen. Der 1938 gesetzlich verordnete sofortige Ausschluss aus der 'Volksgemeinschaft' sei ungesäumt und widerstandslos in die Tat umgesetzt worden. Die drei Umstände, die zur Verfolgung geführt haben, waren laut Levi das Erstarken des antisemitischen Flügels ab 1933, die 1935/36 in Kraft gesetzte Rassentrennung in den Kolonien und das Zusammengehen mit dem "Dritten Reich" (das keine Fortsetzung der bisherigen Politik erlaubt hätte). Salò ist dankenswerterweise ein eigenes Kapitel gewidmet. Sara Berger spricht von "Mitverantwortung" (178) der Italiener am Holocaust. Sie gliedert das breite Handlungsspektrum von rechtlicher Diskriminierung über Internierung und einzelne Morde bis zur Hilfestellung bei den Deportationen in die Todeslager in vier Phasen sich steigernden Verfolgungsdrucks. Entsprechend nahm die Brutalität zu, sodass man Claudio Pavones Typologie von der Einheit und Überlagerung von Befreiungs-, Bürger- und Klassenkrieg um die Kategorie des Rassenkriegs ergänzen muss (was Berger nicht ausdrücklich tut, aber andeutet).
"Die Gegenwart der Vergangenheit", die Zeit seit 1945, schließt, wie gesagt, für das deutsche Publikum die größte Lücke. Guri Schwarz verweist darauf, dass sich der Vatikan 1943 für die Beibehaltung der diskriminierenden Gesetze eingesetzt habe und liefert damit einen wichtigen Baustein für das "Missing Link". Sodann beschreibt er die Widerstände bei der Umsetzung der Wiedergutmachungsgesetze. Er macht dafür auch die die italienische Nachkriegskultur dominierende Resistenza verantwortlich, die sich kaum für den Holocaust und seine Opfer interessierte. Selbst von Croce überliefert er Aussagen, die nur ein weiteres Mal zeigen, dass der italienische Liberalismus mit Minderheiten achtlos umging. Zum Schluss räumt Alberto Cavaglion entschieden mit den Irrtümern auf, die Renzo De Felice in seiner immer wieder aufgelegten verharmlosenden Untersuchung über die Judenpolitik des Faschismus in die Welt gesetzt hat.
Seine Thesen und die sonstigen Erträge des Buches zusammenfassend kann man sagen, dass es wohl einerseits einen massiven, aber lange Zeit unauffällig bleibenden katholischen Antijudaismus gab, den der Vatikan teilte. Er war für Diskriminierung, aber gegen Gewalt. Andererseits besaß der sich für wissenschaftlich ausgebende Rassenantisemitismus in Italien viel weniger Anhänger als in Frankreich, Deutschland und anderswo. Die 1938 verkündeten Rassengesetze stellen schließlich so etwas wie einen Antisemitismus 'von oben' dar, den populär zu machen und von fanatisierten Volksmassen umsetzen zu lassen die Staatsfixiertheit des italienischen Faschismus verhinderte. Das war aber auch nicht nötig, weil, so Cavaglion, viertens statt Antisemitismus "die unvergänglichen nationalen Gewohnheiten" der Italiener (248) für die getreue Umsetzung genügten: Opportunismus, Kult der Bürokratie, Zynismus und die gerissene Suche nach Auswegen. Nach 1943 sei mit dem Mitleid ein weiterer Bestandteil des Nationalcharakters zum Tragen gekommen. Die spätestens 1938 einsetzende neue Ära der Geschichte der jüdischen Minderheit sei deshalb 1945 keineswegs zu Ende gegangen, weshalb diese fünftens in der Nachkriegszeit ebenso wenig wie anderswo einfach an die unterbrochene Tradition habe anknüpfen wollen.
Der Sammelband liefert namentlich dem des Italienischen nicht kundigen Leser eine vorzügliche, auf neuestem Stand befindliche Übersicht über das im Untertitel verheißene Thema. Die eingestreuten Beiträge zur Frauengeschichte tragen dagegen nichts Substanzielles bei.
Christof Dipper