Christian Heitzmann: Europas Weltbild in alten Karten. Globalisierung im Zeitalter der Entdeckungen (= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek; Nr. 85), Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2006, 214 S., 10 Faltkarten, ISBN 978-3-447-05352-5, EUR 60,00
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Das hier zu besprechende Werk besteht aus dem Katalogteil und 10 einzeln gedruckten, ausfaltbaren Karten, die im Schuber mitgeliefert werden. Die Ausstellung zeigte Karten, Atlanten und Kosmografien aus dem reichen Bestand der Herzog August Bibliothek. Der Zeitpfad führt von einigen Beispielen zu Antike und Mittelalter (Teil I) über die See- und Weltkarten des 16. Jahrhunderts ins "ewige Eis" (Teil II), er führt (Teil III) nach Amerika, Asien, Afrika und in den Pazifischen Ozean. Eine Signaturenliste, ein Signaturenregister sowie ein Personenregister - ein Ortsregister gibt es nicht - beschließen den Band. Eingeleitet wird er durch ein Vorwort von Helwig Schmidt-Glintzer, demzufolge der Band "zugleich ein Beitrag zur aktuellen Diskussion über Europas Traditionen und sein heutiges Selbstverständnis sein" soll (VII). Diese Idee dürfte auch den Untertitel "Globalisierung im Zeitalter der Entdeckungen" geboren haben. Zum Glück konzentriert sich das kommentierte Ausstellungsmaterial auf die Darstellung der Welt bzw. einzelner Weltregionen in den Karten und in ihren zeitlichen Kontexten, denn das Untertitelthema hätte dann doch ein ganz anderes Arrangement erfordert.
Christian Heitzmann erläutert in seiner Einleitung überblicksartig das historische Kartenmaterial, was man von ihm erwarten kann und was nicht, welche Grundgedanken die Geografen, Entdecker, Stecher und Verleger bzw. Drucker bei der Verfertigung von Karten anleiteten. Damit ist sogleich ein Pluspunkt dieses Werks genannt: Es präsentiert die Karten als ikonografische Quellen auf eine Weise, dass nicht nur die Spezialisten, sondern auch allgemein Historiker oder interessierte Laien auf ihre Rechnung kommen. Vieles, was den Spezialisten geläufig ist, wird gut erläutert, ohne banal zu wirken - so etwa, was Portulankarten sind, wie sie entstanden, welchen Zweck sie erfüllten.
Der Antike-Mittelalter-Teil wird durch einen älteren Aufsatz von Anna-Dorothee von den Brincken (Archiv für Kulturgeschichte, Band 58, 1976) zu dem Thema "Die Kugelgestalt der Erde in der Kartografie des Mittelalters" eingeleitet. Für viele Ausstellungsbesucher wird es womöglich sogar eine neue Erkenntnis gewesen sein, dass die weitverbreitete Vorstellung von einem Mittelalter, das die Erde als Scheibe, aber nicht als Kugel erachtete, in dieser Form nicht stimmte und stimmt, sondern dass es zwei Traditionsstränge gab, unter denen die These von der Erdkugel, die in der Antike entstand, durchaus ihren Platz behauptete. Der Aufsatz, ergänzt durch das Wolfenbütteler Ausstellungsmaterial, zeigt die verschiedenen gängigen Schemen und Formate (Krates von Mallos, Zonenkarten, Ökumene-Karten, T- bzw. T-O-Karten, Klimakarten und mehr). Gezeigt werden der römische Agrimensoren-Kodex (Pergament vom Anfang des 6. Jahrhunderts), die "Peutingersche Tafel", die Weltkarte aus den "Etymologiae" des Isidor von Sevilla, die das Paradies verzeichnende Weltkarte aus dem "Liber floridus" des Lambert von Saint-Omer, Beispiele für die in der Renaissance nach Ptolemäus erstellten Weltkarten und anderes mehr.
Die beiden folgenden Teile gehen systematisch durch die Weltregionen. Lehrreich ist das "Kapitel" über die Portulankarten, die in ihrer Entwicklung erläutert werden. Hier wie auch in den weiteren Bandteilen wird immer wieder durch Detailaufnahmen in Bild und Text demonstriert, wie der in den Karten untergebrachte Schatz an Informationen gehoben werden kann. Die Ausstellungsstücke beziehen sich auf den Seeweg nach Indien, in die Karibik, nach Amerika. Es schließen sich "frühe Weltkarten in gedruckten Büchern" an, u.a. der erste Ptolemäus-Druck nördlich der Alpen aus Ulm: Lienhart Holl, 16. Juli 1482. So genau weiß man es oft natürlich nicht! Neben der Entwicklung der Weltbilder wird auch auf die kartografischen Darstellungsweisen eingegangen, nicht nur auf die Mercator-Projektion, sondern z.B. auch auf die herzförmigen Karten. Sehr schön sind die Seiten über den Mercator-Globus von 1541. Anhand der Weltkarte von Caspar Volpel (1545) wird etwas genauer darauf eingegangen, wie bestimmte Informationen zur Grundlage kartografischer Einträge wurden. Im konkreten Fall bekam Volpel einen höchst bedeutenden "Zeugen", nämlich Kaiser Karl V., der ihm - reinen Gewissens, aber wie man seit dem 18. Jahrhundert wusste: fehlinformiert - versicherte, es gebe zwischen Amerika und Asien eine Landverbindung (89).
Weniger bekannt als Ortelius und andere, die der Ausstellung ihren Glanz verliehen, sind vielleicht Karten, die die Arktis auf der Grundlage notgedrungen ausgedehnter Unkenntnis zeigten, wie die Arktiskarte Mercators von 1595. Ähnlich verhielt es sich mit der Antarktis. Sehr gut lässt sich anhand der Karten im Lauf der frühneuzeitlichen Jahrhunderte das Entdeckungsgeschehen nachvollziehen, das zu immer größerer Treffsicherheit in Bezug auf die weißen Flecken führte.
Ausführlich wird die allmähliche Kartierung Amerikas ausgebreitet, die in den vergangenen 20 Jahren vielleicht am häufigsten thematisiert worden ist, aber nichts von ihrem Interesse verliert. Spannend ist der Ausstellungs- und Katalogteil über Afrika, dessen eigentliche Erforschung außerhalb des zeitlichen Rahmens der Ausstellung (bis spätes 18. Jahrhundert) steht. Umso mehr blieb Afrika auch kartografisch der Kontinent europäischer Projektionen. Lange hielt man an der Mär vom christlichen Priesterkönig Johannes fest, den man in Äthiopien verortete, oder an der Existenz von Flüssen, die es gar nicht gab, weil man sich offensichtlich keine großen Gebiete ohne Flüsse oder Seen vorstellen konnte oder mochte. Vervollständigt wird die Dokumentation über Karten zu Asien, insbesondere Indien, China und Japan sowie zu Australien ("Neu-Holland") und Neuseeland.
Die Qualität der Abbildungen (zumeist farbig, einige schwarz-weiß) ist gut, Detailausschnitte, die genauere Erläuterungen in den Begleittexten illustrieren, sind sehr instruktiv und hilfreich. Besonders spektakuläre Beispiele sind als Tafeln beigegeben (z.B. Weltkarte aus dem erwähnten Liber floridus, eine Handzeichnung Amerikas (um 1532, vermutlich von Diego Ribeiro); die grandiose Welt- und Kosmoskarte des Antonino Saliba (Neapel 1582) etc.
Die Texte beschreiben die Karten, d.h. den Nicht-Spezialisten lehren sie, die Karten richtig zu sehen und zu lesen. Viel erfährt man über die Geschichte der Namensgebungen, natürlich über die Seefahrten, über Handel, wissenschaftliche Entdeckungsfahrten, andere Motive, Debatten wie um vermutete Landverbindungen. In den Marginalien wird reichhaltig weiterführende Literatur aufgeführt.
Der Band lässt sich im Übrigen sehr gut in der akademischen Lehre einsetzen; dort wäre auch der Ort für diese oder jene Ergänzung. So wird bei Sebastian Münster als Literatur das populärwissenschaftliche Buch von Günther Wessel zu Sebastian Münsters Kosmografie (2004) neben dem Ingelheimer Ausstellungskatalog von 1988 genannt, während die grundlegenden Arbeiten von Burmeister, aus denen Wessel einen Großteil seines Wissens bezieht, unerwähnt bleiben. In Bezug auf die Karten zu China und Japan wird auf mögliche bzw. vorgegebene chinesische und japanische Quellen hingewiesen; hier wäre es interessant, etwas mehr über die immer wieder auflebende Diskussion um chinesische Kartografie der "Welt" zu erfahren. Ein Register zu den sich im Lauf der Zeit ändernden topografischen Namen (z.B. Cathay für China; Zipargi u.a. für Japan; etc.) hätte viel Arbeit gemacht, aber wäre höchst willkommen gewesen. Aber alle wissen, dass Ausstellungskataloge pünktlich zum Ausstellungsbeginn vorliegen müssen ... Wem manches zu flach formuliert ist oder wen die Wiederholungen in den Texten stören, sollte bedenken, dass es sich um einen Katalog handelt.
Wolfgang Schmale