Jürgen G. Nagel: Abenteuer Fernhandel. Die Ostindienkompanien, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, 203 S., ISBN 978-3-534-18527-6, EUR 29,90
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Jüngst sind verstärkt Versuche unternommen worden, der postkolonialen "Provinzialisierung Europas" (Dipesh Chakrabarty) etwas entgegenzusteuern. Es wird darauf verwiesen, dass westliche Werte wie Menschenrechte, Verfassung und Demokratie Errungenschaften der europäischen Zivilisationsgeschichte gewesen seien und von hier aus in die Welt gebracht wurden. Der an der University of North Carolina, Chapel Hill, lehrende Spezialist für die Geschichte der Frühen Neuzeit, John M. Headley, hat dazu ein Buch vorlegt, das auf die europäische Renaissance und Reformation als Ereignisse mit weltgeschichtlicher Wirkung aufmerksam macht. The Europeanization of the World (Princeton University Press, 2008) ist bezeichnend für eine Tendenz, die für die Moderne maßgeblichen kulturellen und religiösen Aspekte von universaler Relevanz in der historischen Entwicklung Europas wieder zu entdecken.
Das soll nicht bedeuten, dass die dunklen Kapitel der europäischen Expansion, Kriege, Gewalt und Sklaverei verschwiegen werden. Doch will es als ein Plädoyer verstanden werden, vielleicht auch als vorsichtige Provokation, sich ebenfalls wieder mehr an den leuchtenden Kapiteln der Geschichte Europas zu orientieren. Wurde nicht die imperiale Zivilisierungsmission unter anderem von der europäischen Tradition des individualistischen Liberalismus getragen? Wovon sich allerdings schwerlich der westliche Befreiungsmythos der Hochmoderne trennen lässt! Und war es, wie Jürgen Nagel in seinem ebenso schlanken wie gelehrten Buch überzeugend argumentiert, nicht ein außerordentlicher Beitrag der Ostindienkompanien, die verschiedenen Welten Europas und Asiens über den Handel enger zu verknüpfen? Nicht alleine eine Transfer-, sondern insbesondere eine Verflechtungsgeschichte lasse sich ausmachen. Das war ein auf Gegenseitigkeit beruhender Prozess, den Nagel minutiös nachzeichnet: indem er auf den Handel selbst verweist, die Produzenten, die Kaufleute, ihre Güter und Agenturen, die europäischen Konkurrenzen und Ambivalenzen. Deutlich zutage traten letztere, als Multatuli 1860 seinen Roman Max Havelaar veröffentlichte - eine flammende Anklage gegen den niederländischen Kolonialismus, wie er ihn in der Vereinigten Ostindischen Kompanie der Niederlande beobachtete.
Eine internationale und viel Aufsehen erregende Ausstellung des Londoner Victoria & Albert Museums mit dem Titel Encounters. The Meeting of Asia and Europe, 1500-1800 im Jahr 2004 widmete sich ebenfalls dem Thema. Alte und neue Welt lernten in einem dreistufigen Vorgang voneinander, der in der Ausstellung mit "discoveries", "encounters" und "exchanges" bezeichnet wurde. Entdeckungen machten jesuitische Missionare aus Portugal und holländische Kaufleute, englische Handelsreisende und französische Naturforscher. Europa traf auf Asien und umgekehrt. Die wechselseitigen Erfahrungen, so die Botschaft dieser Londoner Ausstellung, lehrten das Verstehen voneinander und in Grenzen auch die Toleranz füreinander. Dass die europäischen Mächte Kolonialmächte waren, für die die Erfassung der außereuropäischen Welt insbesondere wirtschaftlichen, politischen, militärstrategischen und auch kulturellen Gewinn bedeuten sollte und vorrangig mit Gewalt errungen wurde, ließ sich demnach vereinbaren mit einer Offenheit für das "Andere", die erst im Zeitalter der Nationalismen verlorengegangen sei - Verzauberung durch das Fremde und dessen Entzauberung an der Schwelle zum 19. Jahrhundert.
Es ist deshalb auch gut zu rechtfertigen, dass Jürgen Nagel den Schwerpunkt seiner Studie ebenfalls auf die Zeit vor 1800 legt, obwohl beispielsweise die englische East India Company bis 1873 existierte. Als die Krone in Reaktion auf die indischen Aufstände von 1858 die volle Verantwortung für die Verwaltung Indiens übernahm, hatte die Kompanie aber in allen Punkten und nicht zuletzt moralisch abgewirtschaftet und war längst in einer Reihe von restriktiven "India Acts" durch die Regierung in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt worden. Den anderen europäischen Ostindienkompanien erging es nicht anders. Schon im 16. Jahrhundert hatten die Portugiesen ein Handelsimperium errichtet, das sich entlang der Küsten von Indien bis Japan erstreckte. Ihrem anfänglichen Monopol wurde allerdings bald von den holländischen und englischen Kompanien erfolgreich Konkurrenz gemacht, denn diese waren schlanker organisiert und nicht wie die portugisieschen von einem missionarischen Geist, sondern von dem Primat des Profits erfüllt. So unterschiedlich das europäische Interesse sich an Asien äußerte, so verschieden waren die Reaktionen umgekehrt. Anders als in China und Japan gelang es den Europäern in Indien, hier ihre Herrschaftsmethoden zu diktieren. Wenn sie nicht funktionierten, basierten transkulturelle Beziehungen auf Gewalt.
Die staatlich privilegierten Handelskompanien verfolgten zunächst das eine Ziel, Gewürze und Tee, Seidenstoffe, Porzellan und andere Luxusgegenstände, die sie in Asien mit Silber bezahlten, in Europa zu Konsumgütern zu machen. Die große Nachfrage hatte zur Folge, dass diese so begehrten und bewunderten, für viele aber unerschwinglichen Güter imitiert und damit zu Massenprodukten wurden, je mehr der Import aus Asien gleichzeitig anstieg. Die Europäer hatten dagegen wissenschaftliche Technologien anzubieten, die auf asiatische Gelehrte und Kunsthandwerker großen Eindruck machten. Osten und Westen formten so ein Bild voneinander, nahmen einen wichtigen Platz in den jeweiligen Vorstellungswelten ein und stellten für die Konstruktion des mysteriösen, unbekannten und exotischen "Anderen" die entsprechende Folie dar.
Erst 1799, nach der Niederlage des Tipu Sultan, sollte sich die Beziehung radikal ändern. Was sich bis dahin in fließenden Übergängen zwischen den Kulturen gestaltete, erhielt nun unveränderliche, von Stereotypen bestätigte Konturen. Die britische administrative, politische, militärische und wirtschaftliche Kontrolle über den indischen Subkontinent war gesichert, sie wurde zunehmend auf die britischen Bedürfnisse und Interessen zugeschnitten. Das Handelsungleichgewicht mit China löste man mit indischem Opium, das die chinesische Wirtschaft und die Gesundheit der Menschen massiv belastete und zerstörte. Die Spannungen führten schließlich zu den Opiumkriegen, mit denen Großbritannien und der Westen ihre ökonomische Dominanz zementierten. Nagel gelingt es in seinem klugen und reichen Buch, die koloniale Ausbeutung und die Probleme der europäischen Expansion zwar nicht zu verschweigen, aber doch in den Handelsbeziehungen zwischen Asien und Europa auch wirtschaftliche, sogar gesellschaftliche Transformationsprozesse zu entdecken. Darin sieht er eine Form der Globalisierung, lange, bevor sie endgültig um 1900 konstatiert werden kann. Der global vernetzte Handel der Frühen Neuzeit war zugleich regional und lokal verwurzelt. Die internationalen Handelsgesellschaften waren mithin in die lokale Welt eingebunden, in die sie wirkten, sie waren Motoren der Kolonisierung weiter Teile Asiens und sie wiesen, Nagel zufolge, Merkmale transnationaler Verflechtungen auch über die kulturellen Grenzen hinweg auf. Das in einer vergleichenden Perspektive und das spezifisch Europäische einer globalen Expansionsgeschichte gezeigt zu haben, ist das besondere Verdienst dieser Studie.
Benedikt Stuchtey