Sylvia Ferino-Pagden (Hg.): Giorgione entmythisiert, Turnhout: Brepols 2008, VII + 211 S., 123 Abb., ISBN 978-2-503-51809-1, EUR 65,00
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Der Band umfasst die Beiträge der Tagung, die im Rahmen der Ausstellung 'Giorgione. Mythos und Enigma' im Kunsthistorischen Museum Wien 2004 stattfand. Es trafen sich die Doyens der italienischen und insbesondere der venezianischen Kunstgeschichtsschreibung, quasi als Neuauflage der wichtigen Giorgione-Tagung 1978, die ebenfalls anlässlich einer Ausstellung am Geburtsort des Künstlers stattgefunden hatte. [1] Es stellt sich also die Frage, welchen Problemstellungen die heutige Giorgione-Forschung nachgeht und ob es inzwischen gelingt, das Enigma Giorgione zu entmythisieren, wie der Titel verspricht.
Die Beiträge lassen sich in zwei große thematische Blöcke gliedern: Charles Hope, Mauro Lucco und Paul Holberton beschäftigen sich im weitesten Sinne mit der künstlerischen Herkunft Giorgiones. Die Ikonografie und deren Interpretation nimmt jedoch einen weitaus größeren Platz ein. Salvatore Settis, Augusto Gentili und David Alan Brown schlagen neue Interpretationen einzelner Kunstwerke vor. Vor dem Hintergrund philologischer Überlegungen schließt sich Karin Zelany mit zwei Vorschlägen zu den literarischen Quellen der berühmten Gemälde der 'Tempesta' und 'Die drei Philosophen' an. Jaynie Anderson und Alessandro Nova dagegen beschäftigen sich mit einem komplexen Gefüge von Kunstwerken wie der Fassadengestaltung des venezianischen Fondaco dei Tedeschi und der männlichen Doppelporträts, die Anderson als Werkgruppe innerhalb des Œuvres des Künstlers versteht.
Hope durchforstet akribisch die Viten Vasaris nach den Spuren nachweislich falscher Angaben von Lebensdaten, Zuschreibungen etc., um seinen Vorschlag zu einem Geburtsjahr um 1485 umso glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Dies würde allerdings Giorgione bereits 18- oder 19-jährig in den Stand versetzt haben, ein so innovatives und einzigartiges Werk wie die Tafel der 'Thronenden Madonna von Castelfranco' gemalt zu haben. Diese Neubestimmung hätte weitreichende Konsequenzen für Zuschreibungsfragen und die Einschätzung Giorgiones als genialen Künstler, der innerhalb seiner sehr kurzen Schaffenszeit zu den größten Leistungen und Neuerungen fähig gewesen wäre. Dem Mythos Giorgione wäre damit durchaus und entgegen dem programmatischen Titel der Tagung neue Nahrung gegeben.
Im Gegensatz dazu bestätigen die Recherchen von Mauro Lucco die Angabe von Vasari, nach der Giorgione in der Werkstatt Giovanni Bellinis seine Ausbildung erhalten hatte. Unter Benutzung reflektografischer Analysen norditalienischer Gemälde der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts legt Mauro Lucco in nachvollziehbarer Weise dar, dass Giorgiones Unterzeichnungen aus der freien Hand und mit einem Pinsel auf die Anwesenheit in der Werkstatt Giovanni Bellinis schließen lassen, in der die gleiche Technik für die Vorbereitung eines Gemäldes verwandt wurde.
Entgegen einer Anmerkung Vasaris, nach der Giorgione unmittelbar von Leonardos Verwendung des sfumato beeinflusst ist, kann Paul Holberton eher eine allgemeine Beeinflussung als eine tatsächlich nachweisliche stilistische Nachahmung Leonardos ausmachen. Der nachträglich angefügte Beitrag Holbertons unterstreicht einmal mehr die toskanozentrierte Rezeption zeitgenössischer Künstler durch Giorgio Vasari, der venezianischen Künstlern eine ungleich geringere Innovationskraft bescheinigte.
Darauf weist auch Alessandro Nova in seinem Beitrag zur Fassadengestaltung des Fondaco dei Tedeschi hin, wenn er die geringschätzige Meinung Vasaris, der Fondaco böte kein einheitliches Programm, auf die Sehgewohnheiten des Toskaners zurückführt. Im nördlichen Italien des 15. Jahrhunderts lassen sich jedoch durchaus ikonografisch ähnlich gestaltete Fassaden wie diejenige der Handelsvertretung der Deutschen in Venedig finden. Mit Novas Kontextualisierung öffnet sich auch der Blick des Kunsthistorikers von der toskanisch-orientierten Vorstellung von in sich geschlossenen ikonografischen Einheiten auf ein Schema, das den verschiedenen Rezipientengruppen Rechnung trägt. Demnach schufen Giorgione und Tizian an den Fassaden des Fondaco ein Programm, das sich auf die Ordnung der sieben Planeten und der sieben Metalle bezieht und das - wie Nova überzeugend darlegt - sowohl für die Handel treibenden Auftraggeber, für die Magistrate am gegenüber liegenden Ufer wie auch für einen normalen flanierenden Venezianer verständlich gewesen sein dürfte.
Jaynie Anderson widmet sich in ihrem sozialhistorisch orientierten Beitrag einer Werkgruppe von männlichen Doppelporträts, die allerdings eher als oberitalienisches Phänomen denn als genuin giorgionesk zu werten sind. Denn die Autorin bezieht sich in ihrer Argumentation auch auf Porträts, die nicht mehr oder nicht eindeutig in das Œuvre Giorgiones einzubeziehen sind. Zu unterstützen ist jedoch die Feststellung der nicht zwangsläufig homoerotischen Beziehung der Abgebildeten, die zuvorderst im Kontext der starken homosozialen Strukturen der venezianischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit zu sehen ist. Unverständlicherweise verweist Anderson dabei nicht auf die herausragenden älteren oder auch jüngst entstandenen Forschungen zu diesem Themenkomplex. [2]
Der Titel des Beitrags von Bernard Aikema 'Giorgione and the Seicento or How a Star Was Born' kann auch als hervorragende Zusammenfassung der Tagung und ihrer Ergebnisse dienen. Aikema legt in bestechender Weise dar, wie Carlo Ridolfi mit 'Le Meraviglie dell'arte' von 1648 den Mythos des Künstlers Giorgione begründet, der hier als Stammvater des zum genialen Nachfolger stilisierten Pietro della Vecchia konstruiert wird, und den Mythos der venezianischen Malerei als farbintensiven Gegenpol zur Florentiner Geniegeschichtsschreibung des Giorgio Vasari fortschreibt. Abschließend stellt Aikema die durchaus berechtigte Frage nach der noch heute andauernden Mythenbildung, die - wie in dem Beitrag Settis' - Giorgione nicht nur ein erstaunlich hohes Maß an Reflexionsvermögen, sondern auch - wie in dem Beitrag Browns - eine höchst komplexe Kenntnis lateinischer Quellen einschreibt - eine Vorgehensweise, die durchaus auch den Künstler als 'Reflexscheibe individueller Denkfähigkeit, ja Spitzfindigkeit der Kunsthistoriker' benutzt, wie Silvia Ferino-Pagden, die Herausgeberin des Bandes und Kuratorin der Ausstellung, schon in dem einleitenden Beitrag zum Katalog bemerkt. [3]
Die Diskussion um die Attribuierung wie auch die gelehrte Interpretation der Gemälde sind nach wie vor die bestimmenden Themen der Giorgione-Forschung. Die Tagung wie auch der daraus entstandene Band zeigen, im Rahmen der monografischen Ausstellung durchaus verständlich, eine Affinität zu einer Kunstgeschichte der Meisterschaft. Neuere Forschungsansätze, die sich weniger der Meisterschaft eines Künstlergenies als vielmehr der Kontextualisierung der Kunstwerke widmen, für die Giorgione nurmehr ein Exempel und weniger der Fixstern ist, finden sich daher weniger - selbst nicht in den Anmerkungen, die sich trotz des rezenten Publikationsdatums auf die Literatur bis 2004 beschränken.
Anmerkungen:
[1] Jaynie Anderson definiert schon mit dem Titel 'The Giorgionesque Portrait II' (155-173) ihren aktuellen Beitrag als Fortsetzung des vor mehr als einem Vierteljahrhundert gehaltenen Vortrags, vgl. The Giorgionesque Portrait. From Likeness to Allegory, in: Giorgione. Atti del Convegno internazionale di studio per il quinto centenario della nascita (Castelfranco Veneto 1978), Castelfranco Veneto 1979, 153-158.
[2] Guido Ruggiero: The boundaries of eros. Sex crime and sexuality in Renaissance Venice, New York 1985; Mechthild Fend / Marianne Koos (Hgg.): Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit, Köln 2004; Marianne Koos: Bildnisse des Begehrens, Emsdetten 2006.
[3] Silvia Ferino-Pagden: Giorgione. Mythos und Enigma, Ausst.kat. Kunsthistorisches Museum Wien, Wien 2004, 13.
Brigitte Reineke