Andrea Di Michele: Storia dell'Italia repubblicana (1948-2008), Mailand: Garzanti Libri 2008, 491 S., ISBN 978-88-11-74074-2, EUR 17,50
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Italien in der Krise sucht sich selbst - und verlässt sich dabei nicht zuletzt auf die Historiker, die in den letzten Jahren zahlreiche Gesamtdarstellungen der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg vorgelegt haben, die Orientierung im Strudel des Niedergangs bieten und vor allem die Gründe dafür offenlegen sollen. Eine davon stammt aus der Feder von Andrea Di Michele, einem 1968 geborenen Historiker und Archivar, der mit seiner Storia dell'Italia repubblicana ein beeindruckendes Buch vorgelegt hat, das alle wesentlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen erfasst und zugleich den Versuch macht, sie in vergleichender europäischer Perspektive zu analysieren.
Die Studie gliedert sich in fünf große Kapitel. Das erste trägt die Überschrift "Zwischen Wiederaufbau und 'Wirtschaftswunder'" und ist den Jahren 1948 bis 1958 gewidmet, in denen Italien mit der Durchsetzung der Democrazia Cristiana als dominierender Regierungspartei und dem Anschluss an das europäisch-atlantische Bündnis grundlegende innen- und außenpolitische Weichenstellungen vollzog und zugleich den Kurs einer vom Staat forcierten Industrialisierung fortsetzte, der bereits in der Ära Giolitti eingeschlagen und auch von Mussolini nicht verlassen worden war.
Die Früchte davon erntete Italien im Jahrzehnt danach, das im Zentrum des zweiten Kapitels über "Die 'große Transformation' (1958-1968)" steht. Di Michele zeigt hier eindrucksvoll, welche mitreißende Dynamik die wirtschaftliche Entwicklung in den fünfziger Jahren gewann und wie groß der Sprung nach vorne war, den Italien damals machte, ohne allerdings die immensen Kosten zu verschweigen, die mit dieser beispiellosen Umwälzung verbunden waren: Der fast totale Untergang der Welt der Tagelöhner, Pächter und Kleinbauern und der Zwang zur Auswanderung und Binnenmigration, der Millionen erfasste und namentlich die Großstädte im industriellen Nordwesten des Landes (Mailand, Turin, Genua) vor riesige Probleme stellte. Die Regierung wirkte hier ebenso hilflos wie angesichts anderer Reformnotwendigkeiten, die sich aus der vollen Entfaltung der Industriegesellschaft ergaben. Daran änderte sich nach Meinung Di Micheles auch nicht viel, als es Anfang der sechziger Jahre zur Öffnung nach links, sprich zur Erweiterung des konservativen Regierungslagers um die sozialistische Partei kam, die mit großen Versprechungen angetreten war. Italien blieb auch danach ein Land mit einem großen Reformstau, das von Krise zu Krise taumelte und trotz des in den sechziger Jahren nur leicht gedämpften Wirtschaftsbooms immer größeren Spannungen ausgesetzt war.
Diese entluden sich in - so lautet auch der Titel des dritten Kapitels - der "Hochzeit der Bewegungen und in der Krise der Republik zwischen 1968 und 1980" in massivem Studentenprotest, in schweren Arbeitskämpfen und in blutigem Terrorismus, der in Italien besondere Virulenz gewann, weil hier linker und rechter Terror mit dem der Mafia zu einer in Europa beispiellosen Herausforderung verschmolz. Der demokratische Staat bestand diese Prüfung, versagte aber vor dem Protest der Studenten und Arbeiter, der allenfalls ansatzweise aufgenommen und reformerisch umgesetzt wurde. Regierung und Opposition, die bei der Abwehr des Terrorismus an einem Strang gezogen hatten, standen sich nahezu unbeweglich gegenüber und beschränkten sich darauf, ihre gefährdeten Machtpositionen zu festigen und dann auszubauen, wobei die Democrazia Cristiana und die Sozialisten weit im Vorteil waren. Sie okkupierten die staatlichen Unternehmen und den öffentlichen Dienst und nutzten auch den Haushalt für eigene Zwecke - und trieben die öffentlichen Schulden so stark in die Höhe, dass der Staat bald kaum mehr handlungsfähig war.
In den achtziger Jahren, die Di Michele im vierten Kapitel unter der Überschrift "Zwischen Staatsschulden und ethischen Defiziten (1980-1992)" beschreibt, spitzte sich die Lage weiter zu. Italien erlebte damals zwar ein zweites Wirtschaftswunder, verstand es aber wieder nicht, die Wasser der günstigen Konjunktur auf die Mühlen einer weitsichtigen Reform- und Konsolidierungspolitik zu lenken. Die Schulden nahmen explosionsartig zu, das Nord-Süd-Gefälle verschärfte sich und die Korruption fraß sich noch in den letzten Winkel der Gesellschaft hinein, ohne dass es ernsthafte Ansätze gegeben hätte, dem allgemeinen Verfall Einhalt zu gebieten.
Den entscheidenden Stoß erhielt das - so Di Michele - längst dem Zusammenbruch geweihte politische System nach dem Fall der Berliner Mauer, als die kommunistische Partei ihre ideologische Basis und die Democrazia Cristiana ihren Hauptgegner und damit auch ihre eigentliche Legitimationsquelle als Bollwerk gegen links verlor und als gleichzeitig der Prozess der europäischen Einigung neuen Schwung gewann. Wollte Italien bei der Wirtschafts- und Währungsunion mitmachen, musste es seine Hausaufgaben erledigen und endlich den Versuch machen, die Inflation einzudämmen, die Schulden zu reduzieren und den Haushalt zu konsolidieren.
"Zusammenbruch ohne Erneuerung: auf der Suche nach der zweiten Republik (1992-2008)" nennt Di Michele im fünften Kapitel diese Entwicklung, die ganz im Zeichen unerhörter Korruptionsfälle, schmerzlicher Sparprogramme sowie der Auflösung des alten und der Herausbildung eines neuen Parteiensystems stand. Italien erlebte stürmische Jahre des Übergangs, der noch längst nicht abgeschlossen ist und nicht zuletzt deshalb ungewissen Zielen entgegensteuert, weil mit den alten Parteien auch das alte Wirtschaftsmodell Italien - jene spezifische Mischform aus Staats- und Bonsaikapitalismus mit Schwerpunkt in der Industrie - in die Krise geraten ist.
Andrea Di Michele beschreibt die Metamorphosen Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg mit bewundernswerter Klarheit und großer Umsicht, wobei er sich vor allem auf das bewährte Instrumentarium der Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte stützt. Kritisch anzumerken ist eigentlich nur, dass der Autor - wie viele seiner italienischen Kollegen - die Geschichte allzu geradlinig auf das fatale Ende zulaufen lässt. Dabei bleibt nicht nur die Offenheit historischer Prozesse auf der Strecke, die Geschichte Italiens wird auch - fast automatisch - in eine Geschichte der Defizite und Misserfolge verwandelt, in der sie sich freilich nicht erschöpft.
Hans Woller