Oliver Stein: Die deutsche Heeresrüstungspolitik 1890-1914. Das Militär und der Primat der Politik (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 39), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007, 444 S., ISBN 978-3-506-76398-3, EUR 58,00
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Die deutsche Heeresrüstungspolitik vor 1914 hat von jeher das Interesse von Zeitgenossen und Historikern geweckt. Spätestens seit den Debatten über den Schlieffen-Plan und die angeblich "fehlenden" drei Armeekorps, die den Sieg gebracht hätten, stellte sich die Frage, warum das Deutsche Reich zu Lande "unzureichend" für einen großen Kontinentalkrieg gegen halb Europa gerüstet war.
Oliver Stein beschäftigt sich in seiner zu Recht mit dem Werner-Hahlweg-Preis ausgezeichneten Potsdamer Dissertation mit dieser Frage und versucht, überzeugende Antworten anzubieten. Nun ist Stein nicht der Erste, der eine "moderne" Antwort zu geben versucht. Vor gut 20 Jahren hat Stig Förster, inzwischen einer der Nestoren der deutschen Militärgeschichtsschreibung, mit seiner Dissertation über den "doppelten Militarismus" eine Antwort gegeben, die eigentlich alle zufrieden zu stellen schien.
Stein stellt manche These, die als gesichert gelten konnte, nunmehr in Frage. Mit großer Kenntnis der Akten zeichnet er die Verantwortlichkeiten für Heeresvorlagen nach, fragt nach den "Interessen" aller Beteiligten - Militär, Reichsleitung, Rüstungsindustrie, Öffentlichkeit und Verbänden. Gleichermaßen profund ist seine Analyse der rein militärischen Faktoren. Als Beispiel sei hier nur auf seine Abschnitte über "Volk in Waffen" oder "Rüstungspolitische Grundfragen im Zeitalter der Millionenheere" verwiesen. Auch seine Analysen über die "großen" Heeresvorlagen 1912/13 sind nicht nur lesenswert, sondern bieten auch viel Neues.
Einzelne Punkte, die dem Rezensenten besonders wichtig erscheinen, sollen hier beispielhaft hervorgehoben werden. Dazu gehört zunächst, dass er die Funktion des Militärs als "Bürgerkriegsarmee" in Frage stellt. Der Krieg nach außen, nicht nach innen war jenseits aller bramabarsierenden Rhetorik des Kaisers Hauptaufgabe der Armee, dafür würde sie ausgebildet und ausgerüstet. Der immer wieder diskutierte Einfluss der Rüstungsindustrie gehört ebenfalls in den Bereich der Legende. Die wesentlichen Entscheidungen wurden von der Heeresverwaltung getroffen, die bei aller "Vorliebe" für Krupp sehr darauf achtete, nicht übervorteilt zu werden.
Komplizierter als es gelegentlich angenommen wurde, war auch die Diskussion über "Güte" oder "Zahl", d.h. ein kleines, aber schlagkräftiges oder ein großes, aber weniger schlagkräftiges Heer. Vieles war hier allein aufgrund der technischen Entwicklung einfach zu sehr im Fluss, als dass einfache Antworten möglich gewesen wären. Dies gilt ebenfalls für die Diskussionen über die Bedeutung von "Offensiven".
Viel entscheidender, und hier liegt das eigentlich Neue der Arbeit, war die Bedeutung der Politik in diesem Geflecht. Diese war, glaubt man Stein, der überzeugend argumentiert, viel stärker als häufig angenommen. Sie fällte sowohl in den 1890er Jahren als auch 1912/13 die grundlegenden Entscheidungen. Allein die Ausgestaltung der Vorlagen wie auch die operative Planung des Einsatzes der Armee im Kriegsfalle überließ sie, wenn auch mit fatalen Folgen, der Armee. "Bethmann Hollweg", so die zentrale These der Arbeit, "plante und handelte [...] weitestgehend unter Ausschluss der Militärführung und setzte in dieser Hinsicht klar den Primat der Politik durch." (381). Auch Kriegsminister Falkenhayn, eigentlich ein harter "Eisenfresser", hat sich mit seinen Forderungen an dem vermeintlich weichen "Philosophen aus Hohenfinow" die Zähne ausgebissen.
Alles in Allem ist diese Arbeit eine große Leistung. Sie rückt nicht nur die Gewichte zwischen Militär und Politik wieder zurecht, sondern zeigt auch einmal mehr, dass das Kaiserreich im Allgemeinen wie auch die Geschichte des Verhältnisses von Politik und Militär trotz so vieler vorliegender Studien weiterhin ein fruchtbares Feld für Historiker ist. Die Studie des Verfassers liefert dafür einen wichtigen Mosaikstein, zeigt vor allem aber auch, wie eine moderne Arbeit zu dieser Thematik aussehen sollte.
Michael Epkenhans