Stefan Samerski (Hg.): Die Renaissance der Nationalpatrone. Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, VII + 221 S., ISBN 978-3-412-20004-6, EUR 27,90
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Die Bilder und Tatsachen sind bekannt: Ehemalige kommunistische Funktionäre oder frühere Angestellte der Staatssicherheitsbehörden geben bei religiösen Feiern, die live im Fernsehen übertragen werden, die frommen Patrioten, lassen für viel Geld Kathedralen oder wenigstens Kapellen errichten; Erinnerungsfeiern an gottesfürchtigen Landesfürsten werden zum Medienereignis und allerhand Liköre oder wenigstens repräsentative Pralinenschachteln zieren nicht mehr spätsowjetische Blumenmuster, sondern Bilder aus einer glorreichen und der Sache des Glaubens zugeneigten nationalen Vergangenheit. Die Mischung aus Nationalismus, mediävistisch angereicherter Geschichtspolitik und tief empfundener oder manchmal vielleicht doch nur inszenierter Religiosität scheint die politische Kultur der neugegründeten oder wieder hergestellten Staaten des früheren sowjetischen Machtbereiches im Besonderen zu prägen. Dagegen scheint das englische Sankt-Georgs-Kreuz nur noch Symbol einer Nationalmannschaft und des mit ihr verbundenen Merchandising und die Versuche Jean-Marie Le Pens, französische Nationalpatrone wie die Hl. Johanna oder den Hl. Chlodwig für seine Bewegung zu vereinnahmen, wirken wie abwegiges Schmierentheater ohne politische Relevanz. Mit anderen Worten: Ost- und Ostmittel und Südosteuropa, so die Annahme des hier zu besprechenden Sammelbandes über Nationalpatrone, scheinen im Gegensatz zu Westeuropa (von Italien abgesehen) in den letzten Jahren besonders anfällig gewesen zu sein für nationalistisch-religiöse Geschichtspolitik, so dass dieser Raum "trotz politischer und konfessioneller Pluralität der Kontexte [...] als Ganzes auf Identitätsphänomene" untersucht werden sollte. (Einleitung, 12) Dass der heutige Boom der Nationalpatrone zwischen Wladiwostok und Posen, Vilnius und Skopje bereits zu Sowjetzeiten, seit den 1970er Jahren oder sogar noch früher (Alexander Newskij unter Stalin, 57-61) einsetzte, spricht dafür, dass sich mit Verweis auf die zumeist mittelalterlichen Heiligen sehr verschiedenartige, zumeist einander widersprechende, aber lange Kontinuitätskonstruktionen ermöglichende Deutungen von Nationalgeschichte integrieren lassen.
Der Sammelband umfasst neben der Einleitung der Herausgeber zwei weitere Beiträge eher einführenden Charakters, bei denen es um "Ostmitteleuropa" als "Region und Epoche" geht (Stefan Troebst) bzw. um "Heilige Landespatrone" seit der frühen Neuzeit (Hans-Jürgen Becker). Während man bei Troebsts sehr anregendem, den neuesten Stand der Mental-Mapping-Diskussion reflektierenden Beitrag den Bezug zum Thema "Nationalpatrone" vermisst und der Aufsatz daher ein wenig isoliert erscheint, bietet Becker eine sehr gelungene Übersicht über Entstehung, Funktionsweisen und Varianten von Landespatronen bis zur heutigen Zeit, wobei er auch Westeuropa mit einbezieht. Dass selbst das Mutterland des Säkularismus im 20. Jahrhundert nicht ohne die bereits erwähnte Jean d' Arc als Symbolfigur auskam, verweist zudem auf das Spannungsfeld zwischen Religion und antireligiösen Strömungen, das auch in Ostmitteleuropa, und nicht nur im entkirchlichten tschechischen Raum, zu beachten ist.
Den Hauptteil des Sammelbandes bilden schließlich die acht Fallstudien, die eine ganze Palette von Heiligenkulten in Polen, Ungarn, Rumänien, dem Balkan und Russland präsentieren. Da die Beiträge, trotz ihrer unterschiedlichen Qualität, einen relativ einheitlichen Aufbau haben, lassen sich die Länderstudien insgesamt sehr gut vergleichen und in größere Zusammenhänge einordnen, allerdings wird dies eher dem Leser überlassen. Geboten wird jeweils eine knappe Darstellung der zumeist mittelalterlichen Ursprünge und Funktionen der Heiligenkulte, gefolgt von einem kurzen Umriss der modernen Kultgeschichte und schließlich eine zeithistorische Vertiefung des bzw. der vorgestellten Nationalpatrone. Querverweise auf ähnliche oder benachbarte Heiligenkulte sind aber leider nur selten zu finden, der nationale bzw. auf das eigene, engere Thema fixierte Blick überwiegt. Polen sind gleich zwei, wenn auch sehr unterschiedliche Beiträge gewidmet, die sich aber teilweise ergänzen. So fällt etwa auf, dass sowohl in Polen als auch in Ungarn Anfang der 1980er Jahre versucht wurde, durch staatliche Förderung durch Ausstellungen, Briefmarkenserien, Rockopern und ähnlichem die jeweiligen nationalen Kulte durch staatliche Förderung oder wissenschaftliche Bearbeitung gewissermaßen zu vereinnahmen, zu kanalisieren und dadurch ihre politisch-nationale Wirkung abzuschwächen, was allerdings in beiden Fällen wenig Erfolg hatte, zumindest nicht zur Stützung der Regime beitrug.
Während Kazimierz Śmigiels informativer Artikel von Śmigiel über "Adalbert von Prag" als polnischen Nationalpatron "durchweg auf Quellenmaterial" (63) beruht und daher eher wie eine Dokumentation (etwa des Papstbesuches 1997) wirkt, analysiert Agnieszka Gąsior dagegen kritisch den historischen Wandel der Bedeutung und Funktion des polnischen Marienkults und insbesondere die Verehrung des Gemäldes der "Schwarze Madonna" von Jasna Góra bei Tschenstochau im Kontext der jüngsten polnischen Zeitgeschichte. Herausragende politische Bedeutung erhielt der Marienkult besonders seit der Papstwahl Karol Woytiłas, der die Marienverehrung besonders pflegte, und mit Solidarnośč. Doch hatte Kardinal Wyszyński schon 1957 eine Polenfahrt der Tschenstochauer Ikone angeregt (87), was dazu führte, dass Gläubige in Posen den Bus mit einer Kopie der Madonna auf ihren Schultern durch die Stadt trugen, nachdem die Kommunistische Partei die Fahrt des Busses verboten hatte. Das Beispiel zeigt auch die Hilflosigkeit der kommunistischen Obrigkeit gegenüber dem nationalen Marienkult, deren Verbote buchstäblich ins Leere liefen. Sehr anregend und weiterführend sind auch die Artikel über den Kult um Kyrill und Method in der Slowakei von Ewa Kowalská (116-127), der seit dem 19. Jahrhundert v. a. der Abwehr magyarischer und (später) tschechischer Ansprüche diente sowie der faszinierende Aufsatz von Juliane Brandt über die ungarische Rockoper König Stephan den Heiligen von 1983 und die sehr unterschiedlichen Lesarten dieses Werks, die dessen Popularität bei sehr unterschiedlichen Gruppen ermöglichte. Ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren mit genaueren Angaben wäre allerdings hilfreich gewesen, hier ist der Verlag zu tadeln. Der Band von Krista Zach und Stefan Samerski bietet eine ausgezeichnete Einführung in das für die politische Kulturen Osteuropas so wichtige Thema des Spannungsverhältnisses von Religion und Politik.
Árpád von Klimó