Udo Wengst / Hermann Wentker (Hgg.): Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz, Berlin: Ch. Links Verlag 2008, 383 S., ISBN 978-3-86153-481-5, EUR 29,90
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Da war es wieder, das Heym'sche Diktum von der DDR als "Fußnote der Weltgeschichte". Und - wie war es anders zu erwarten? - fast reflexartig begannen die Diskussionsmühlen der deutschen Historikerzunft sich um die Frage zu drehen, wie denn die DDR-Geschichte einzuordnen sei in die Darstellung der deutschen Nachkriegsgeschichte insgesamt. Diesmal hatte Hans-Ulrich Wehler in der Einleitung seines fünften Bandes der Gesellschaftsgeschichte den Anstoß dazu gegeben: Da die kurzlebige Existenz der DDR "in jeder Hinsicht in eine Sackgasse geführt" habe, werde ihrer Geschichte "keine gleichwertige Behandlung mit der Bundesrepublik eingeräumt", sondern diese stattdessen "als Kontrast und zum Vergleich herangezogen." [1]
Im "Lesesaal" der Frankfurter Allgemeinen Zeitung äußerten sich 13 ausgewiesene Expertinnen und Experten zu der von den Herausgebern vorgegebenen Frage "Modell Bundesrepublik - Fußnote DDR?" [2] Die Beiträge repräsentieren damit in besonderer Weise, was die "Zunft" zum Thema beizutragen hat. Auf der einen Seite ist das nicht wenig, zeigt sich doch eine tiefe Durchdringung des Problems, eine ganze Palette von Argumenten pro und kontra verschiedene Zugänge und - hoch erfreulich! - eine Argumentationskultur, die bis auf wenige Ausnahmen von (geschichts-)politischen Verzerrungen frei ist. Diese Bilanz geballter Gelehrsamkeit kann sich sehen lassen.
Warum auf der anderen Seite dennoch ein schales Gefühl bleibt, ist leicht zu erklären. Die im FAZ-Lesesaal gebotene Zusammenschau deckt eben auch auf, dass es an Metaüberlegungen nicht (mehr) mangelt, im Gegenteil: Es bleibt der Eindruck, dass dasselbe Stroh immer wieder gedroschen wird. Was stattdessen fehlt, ist eine überzeugende Umsetzung dieser vielfach variiert und in den verschiedensten Kontexten vorgebrachten Ideen und Konzepte. (Fast) 20 Jahre nach der Wiedervereinigung bedarf es einer Konzeption, die es erlaubt, deutsch-deutsche Geschichte ebenso reflektiert wie auch darstellbar zu "erzählen" und damit weiterzugeben. Insbesondere deutsch-deutsche Zeitgeschichte ist kein Glasperlenspiel der Expertinnen und Experten, sondern muss eben auch Antworten geben auf Fragen und Bedürfnisse eines historisch interessierten Publikums, das mehr verdient als nur die wichtige, aber nicht hinreichende Metaebene.
In diese Lücke stößt der im Folgenden vorzustellende Band, der empirische wie auch methodische Bausteine zu einer noch fehlenden, aus den Quellen gearbeiteten "ungeteilte[n] Nachkriegsgeschichte Deutschlands" [3] bietet. Herausgegeben von Hermann Wentker und Udo Wengst versammelt die Publikation 15 empirisch tiefgründige und konsequent auf Probleme der deutsch-deutschen Beziehungs- und Wirkungsgeschichte fokussierte Beiträge. Die den Aufsätzen zugrunde liegende Fragestellung wird von den beiden Herausgebern klar vorgegeben: "Neben Prozessen des deutsch-deutschen Austauschs, der beiderseitigen Rivalitäten und der Versuche der wechselseitigen Einflussnahme steht dabei vor allem die Frage nach den Wahrnehmungen von Entwicklungen im jeweils anderen deutschen Staat und deren Auswirkungen auf die verschiedenen Politikfelder und gesellschaftlichen Subsysteme in beiden deutschen Staaten im Mittelpunkt." (12)
Mit den parallel betriebenen Reformen des Abtreibungsstrafrechts in Ost und West 1972, dem "Sparwasser-Tor" von 1974 oder dem Strauß'schen Milliardenkredit an die DDR im Jahr 1983 ist jedem Beitrag ein zentrales, augenfälliges Ereignis vorangestellt, anhand dessen dann die einzelnen Autorinnen und Autoren einen Längsschnitt der deutsch-deutschen Beziehungs- und Perzeptionsgeschichte für ihren Bereich entwickeln. Der populäre Einstieg ist nicht der einzige Leseanreiz, der gegeben wird: Im Inhaltsverzeichnis sind dem Titel jedes Beitrags die Jahreszahlen des Einstiegsereignisses vorangestellt und die Beiträge chronologisch sortiert, sodass der Gesamtband wie ein klassisches "Lesebuch" durch vier Jahrzehnte deutsch-deutscher Zeitgeschichte genutzt werden kann. Dass trotz dieses Kunstgriffs nicht die gesamte Breite deutsch-deutscher Geschichte abgebildet wird, ist den Herausgebern gleichwohl bewusst (12).
Dass und mit welchem Erkenntnisgewinn das auf die Beziehungs-, Perzeptions- und Wirkungsgeschichte abzielende Konzept aufgeht, soll im Folgenden zunächst an einem Beispiel gezeigt werden: Einer der wirkmächtigsten Klammern der beiden Deutschlands nimmt sich Hermann Wentker in seinem Beitrag zum evangelischen Kirchentag in Leipzig 1954 an. "Seid fröhlich in der Hoffnung", so das durchaus nicht nur eschatologisch gemünzte Motto der dezidiert gesamtdeutsch gestalteten Großveranstaltung. Trotz aller schon artikulierten Besorgnis über die Zukunft des politisch getrennten Deutschlands appellierten prominente Redner in den zentralen Foren an die Christen in Ost und West, das Gemeinsame zu bewahren und an der Einheit festzuhalten. Allen gemeinsamen Wurzeln zum Trotz entfernten sich ost- und westdeutsche Protestanten in den Folgejahren und -jahrzehnten stark voneinander. Neben das Einende traten wechselseitige Entfremdung und Spaltung (66), zu unterschiedlich waren die Herausforderungen, denen sich die jeweiligen Protestantismen in den politisch so divergierenden Teilstaaten ausgesetzt sahen. Wo die westdeutschen Landeskirchen einem erheblichen gesellschaftlichen Modernisierungsdruck ausgesetzt waren und deswegen Mitglieder verloren, da brachte der machtpolitisch und ideologisch motivierte SED-Kirchenkampf der Volkskirche viel stärkere Einbrüche und einen Wandel, der den Angängen durch das politische System Rechnung trug. Die so unterschiedlichen Entwicklungen mündeten dann in den 1970er und 1980er Jahren in "wechselseitige Wahrnehmungsprobleme" und einen "gestörten Dialog, dem es oftmals an Offenheit mangelte." (76) Bestechend klar kann Wentker herausarbeiten, wie die jeweils andere Position in der Gesellschaft unterschiedliche Umgangs- und Redeweisen produzierte: Bezüglich der Frage von Wehrdienstverweigerung beharrte die protestantische Kirche Ost Mitte der 1960er Jahre auf der Einführung eines nicht militärischen Ersatzdienstes und deklarierte, dass Verweigerer und Bausoldaten "ein deutlicheres Zeugnis des gegenwärtigen Friedensgebotes unseres Herrn" abgäben. Die westdeutsche EKD changierte hingegen zwischen den Polen Wehr- und Zivildienst, um auf diese Weise die von ihr repräsentierten unterschiedlichen Interessengruppen zu integrieren (80f.). Nicht nur in dieser Frage, sondern auch in vielen anderen Aspekten entfernten sich die Kirchen voneinander. "Auch wenn sich die Kirchen in der Bundesrepublik und in der DDR als Partner betrachteten, die durch eine 'besondere Gemeinschaft' verbunden waren, nahmen sie sich gegenseitig doch als Fremde wahr", so Wentkers Resümee.
Der Band enthält viele weitere Beiträge, die die Validität des Konzeptes zeigen und demonstrieren, dass selbst auf stark beachteten Feldern neue Einsichten akzentuiert werden können. Dierk Hoffmann führt in die Geschichte deutsch-deutscher Spitzentreffen ein, Michael Schwartz vergleicht die Reformen des Abtreibungsstrafrechts in Ost und West. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns dient Johannes Hürter als Aufhänger dazu, die Geschichte von Künstlern und Intellektuellen "zwischen den Stühlen" zu skizzieren. Er schließt damit zeitlich an den Beitrag von Petra Weber an, die das "umstrittene kulturelle Erbe und die deutsche Kulturnation" zum Thema hat. Am Beispiel des Ausscheidens Heinrich Lübkes aus dem Bundespräsidentenamt kann Udo Wengst die unterschiedlichen Konturen der "Vergangenheitsbewältigung" in Ost und West sowie ihre Instrumentalisierung im Kalten Krieg zeigen. Wie ergiebig der dem Band zugrunde liegende Ansatz ist, belegt vor allem auch der Beitrag von Anne Rohstock, die die wechselseitigen Wahrnehmungen und Reaktionen auf Veränderungen im Bildungsbereich skizziert.
Den genannten wie auch den weiteren Beiträgen ist eine starke Verbreitung zu wünschen, nicht nur in der scientific community, sondern auch in einer weiteren Leserschaft. Die Voraussetzungen dafür sind gut, denn nicht zuletzt besticht der Großteil der Aufsätze dadurch, dass er einen sprachlich ansprechenden, im besten Sinne populären Stil mit wissenschaftlichem Tiefgang zu verbinden versteht.
Anmerkungen:
[1] Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949-1990, München 2008, XVI.
[2] Vgl. dazu: http://lesesaal.faz.net/wehler/exp_forum.php?rid=5 (Zugriff am 16. September 2008).
[3] Peter Bender: Deutschlands Wiederkehr. Eine ungeteilte Nachkriegsgeschichte 1945-1990, Stuttgart 2007.
Thomas Großbölting