Rezension über:

Peter Longerich: Heinrich Himmler. Biographie, München: Siedler 2008, 1035 S., ISBN 978-3-88680-859-5, EUR 39,95
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Rezension von:
Bastian Hein
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Bastian Hein: Rezension von: Peter Longerich: Heinrich Himmler. Biographie, München: Siedler 2008, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 12 [15.12.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/12/15016.html


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Peter Longerich: Heinrich Himmler

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Der breiten Öffentlichkeit war schon lange vor Guido Knopps erster Staffel von "Hitlers Helfer" 1996 bekannt, dass der "Reichsführer SS" zu den ganz großen Schurken des 'Dritten Reichs' gehörte. Umso erstaunlicher ist, dass bislang keine Gesamtbiografie aus der Feder eines ausgewiesenen Zeithistorikers vorlag. [1]

Diese Forschungslücke hat nun Peter Longerich in einer stupenden Fleißarbeit geschlossen. Neben Archivalien aus Deutschland, den USA, Großbritannien, Russland und Israel hat er dabei eine enorme Menge an vorhandener Spezialliteratur verarbeitet. Trotz der stattlichen Länge von 764 Textseiten ist das Produkt über weite Strecken gut lesbar. Lediglich einzelne Passagen ermüden durch die Reihung längerer Quellenzitate oder handbuchartige Aufzählungen.

Das Buch folgt in fünf seiner sechs Hauptteile [2] chronologisch dem Lebenslauf Himmlers. Zunächst wird im Stil einer klassischen Biografie Himmlers Elternhaus vorgestellt, das ganz im konservativ-bildungsbürgerlichen Milieu des Kaiserreichs verankert war und Himmler entgegen anderer Darstellungen [3] zwar streng, aber liebevoll erzog. Auf die "schiefe Bahn" geriet Himmler erst, als ihm der im patriotischen Taumel herbeigesehnte Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg verwehrt blieb. Weder als Student der Agrarwissenschaften noch als Sachbearbeiter einer Düngemittelfabrik konnte oder wollte er sich mit einem normalen undramatischen Leben anfreunden. Erst die Teilnahme am Hitlerputsch im Freikorps Ernst Röhms bzw. der rasche Aufstieg als Parteifunktionär der NSDAP, zunächst als Sekretär Gregor Straßers in Niederbayern, dann als stellvertretender Reichspropagandaleiter und schließlich als Reichsführer SS, vermochten seinen Drang nach Bedeutsamkeit und Anerkennung zu stillen.

Ab dem zweiten Teil, der Himmlers Karriere im 'Dritten Reich' bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs gewidmet ist, weicht Longerich von der gewohnten biografischen Methode ab. Bewusst wechselt er zu einem struktur- und institutionsgeschichtlichen Ansatz und lässt die "private Person hinter der Funktion als Reichsführer SS" (12) verschwinden. So wird deutlich, welche Machtfülle sich Himmler durch seinen Aufstieg zum "Chef der Deutschen Polizei" erkämpfte und welche verheerenden Konsequenzen der von ihm verfolgte Weg einer präventiven und rassistisch orientierten Gegnerbekämpfung hatte. Andererseits bleibt die eigentliche Person Himmler durch diese methodische Grundsatzentscheidung ebenso blass wie sein Verhältnis zu anderen NS-Granden wie Hitler, Göring oder Goebbels bzw. zu engen Mitarbeitern wie Reinhard Heydrich oder Karl Wolff. Der Eindruck, der entsteht, ist der eines Mannes, der sich nach seinen formativen Jahren kaum noch weiterentwickelte, sondern lediglich seine einmal angelegten Stärken und Schwächen immer hemmungsloser auslebte.

Die Teile IV, V und VI beschreiben Himmlers Wirken im Zweiten Weltkrieg bzw. das der von ihm kontrollierten Organisationen Gestapo, Kriminalpolizei, Ordnungspolizei, Sicherheitsdienst, Konzentrationslager-SS und Waffen-SS. Hier wird erschreckend deutlich, wie sehr der Krieg für einen rassistischen Fanatiker wie Himmler eine Chance darstellte. Rastlos zwischen den SS- und Polizeiverbänden hin und her reisend, feuerte Himmler seine Männer an, seine ursprünglich in eine ferne Zukunft projektierte Utopie eines "rassisch reinen germanischen" Großreichs zu verwirklichen. Dazu galt es einerseits, Millionen Menschen nach völlig willkürlichen Kriterien "rassisch zu begutachten" und das "gute Blut" als Siedler bzw. Soldaten der Waffen-SS an sich zu binden, andererseits, ausgedehnte Landstriche für diese "germanischen" Siedler zu entvölkern bzw. zumindest alle aus Sicht der Nationalsozialisten gefährlichen Menschen unter den zukünftigen Heloten auszuschalten. Im Prozess dieser gnadenlosen "Ausmerze" von Millionen Polen, Sowjetbürgern und v.a. Juden spielte Himmler immer wieder die Rolle des Befehlsgebers und Antreibers. Selbst die Hände schmutzig gemacht hat er sich dabei anscheinend nie (489), obwohl er Massenerschießungen und Morden durch Giftgas persönlich beiwohnte. Dass er diese Taten stets als "anständig" verteidigte, zeigt, wie sehr Himmler seinen Wahnvorstellungen vom Überlebenskampf der "Germanen" gegen "jüdisch-asiatische Untermenschen" verhaftet war. Dennoch war er nicht bereit, vor Gericht zu seinen Taten zu stehen und beging im Mai 1945 kurz nach seiner Verhaftung durch die Briten Selbstmord.

Insgesamt hat Peter Longerich eigentlich nicht ein, sondern zwei Bücher geschrieben. Das erste ist der Teilbiografie Bradley Smiths von 1979 zum jungen Himmler [4] ähnlich, wenn auch deutlich kompakter und zusätzlich die Jahre von 1926 bis 1933 umfassend. Das zweite ist keine Biografie im eigentlichen Sinn, sondern eine Gesamtdarstellung der Geschichte der SS für die Zeit von 1933 bis 1945 unter besonderer Berücksichtigung ihres "Reichsführers", die zwar keine grundsätzlichen Neuinterpretationen, dafür aber eine gelungene Synthese der vielen Spezialstudien bietet, die seit den Arbeiten Höhnes und Koehls [5] entstanden sind.


Anmerkungen:

[1] Willi Frischauer (1953) war Journalist und Publizist, Heinrich Fraenkel und Roger Manvell (1965) waren Filmwissenschaftler, Peter Padfield (1991) ist zwar Historiker, jedoch v.a. im Bereich der Seefahrtsgeschichte tätig. Die Bücher von Frischauer und Padfield sind zudem nicht in deutscher Übersetzung, sondern nur im englischen Original erschienen.

[2] Die Ausnahme bildet der Teil III zur SS als "Orden", in dem bizarre, auf Himmler persönlich zurückgehende Aktivitäten der SS (z.B. Germanentümelei, Astrologie) sowie sein äußerst patriarchalischer Führungsstil skizziert werden.

[3] Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders, Zürich 1980.

[4] Bradley F. Smith: Heinrich Himmler 1900-1926. Sein Weg in den deutschen Faschismus, München 1979.

[5] Heinz Höhne: Der Orden unterm Totenkopf, Gütersloh 1967; Robert Lewis Koehl: The Black Corps. The structure and power struggles of the Nazi SS, Madison, Wisconsin 1983.

Bastian Hein