Stefan Karner / Othmar Pickl (Hgg.): Die Rote Armee in der Steiermark. Sowjetische Besatzung 1945 (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz - Wien - Klagenfurt; Sonderband 8), Graz: Leykam Buchverlag 2008, 462 S., ISBN 978-3-7011-0110-8, EUR 29,90
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Österreich stellte einen besatzungspolitischen "Sonderfall" der europäischen Nachkriegsentwicklung dar [1]: Die langjährige sowjetische Besatzung bis 1955 führte nicht zur Sowjetisierung der sowjetischen Zone und die alliierte Herrschaft resultierte nicht in der Teilung, sondern in der garantierten Neutralität des Landes. Es ist in der Forschung, die sich mittlerweile auf einen breiten Fundus sowjetischer Akten stützen kann, umstritten, ob Stalin nach ersten Enttäuschungen mit der Regierung Renner und freien Wahlen überhaupt noch die Umwandlung Österreichs in eine sozialistische "Volksdemokratie" verfolgte. [2] Die Dokumente des vorliegenden Bandes können keinen unmittelbaren Einblick in sowjetische Überlegungen ab Ende 1945 geben: Die sowjetische Armee räumte gemäß alliierter Zonenabsprachen ihre Stellungen in der Steiermark nach rund zehn Wochen Besatzungszeit. Zudem befanden sich während dieser frühen Phase neben sowjetischen auch amerikanische und britische, bulgarische sowie jugoslawische Einheiten in diesem Bundesland. Die hier publizierten - und einwandfrei übersetzten! - Archivalien dokumentieren somit Ansätze einer sowjetischen Besatzung, die durch den Truppenabzug abrupt abgebrochen wurden. Die dichte Beschreibung sowjetischer Aktivitäten in einem kurzen Zeitraum erhellt wesentliche sowjetische Grunddispositionen und Besatzungspraktiken, die im übrigen Okkupationsbereich ihre langfristige Wirkung entfalten konnten.
Die Provenienz der präsentierten Dokumente - sie entstammen v.a. dem Militärarchiv sowie dem Zentralarchiv des russischen Verteidigungsministeriums - spiegelt sowjetische Prioritäten und Strukturen wider. Politische und wirtschaftliche Bestandsaufnahmen der Politabteilungen der Armee oder Lageberichte der für den "Schutz des Hinterlandes" der 3. Ukrainischen Front zuständigen NKVD-Truppen belegen eine detaillierte Beobachtung regionaler Entwicklungen. Die sowjetische Wahrnehmung war aber von ideologischen wie "tschekistischen" Gewissheiten vorgeprägt. Die Interna enthüllen ganz nebenbei das tief sitzende Misstrauen sowjetischer Bürokratien gegenüber dem britischen Bundesgenossen sowie ihre Aversionen gegenüber jugoslawischen Selbstständigkeiten (Dokumente 3; 98). Die Dokumentation der intensiven Kampfeinsätze bis zur deutschen Kapitulation schärft den Blick für die gewalttätige Ausgangssituation sowjetischer Besatzungsherrschaft. Die Zahl der Gefechtsmeldungen wie auch späterer Organisations- respektive Stellungsbefehle hätte allerdings ohne inhaltliche Verluste reduziert werden können.
Die Aktivitäten sowjetischer Machtträger in der besetzten Steiermark fügen sich naturgemäß in das Gesamtbild sowjetischer Besatzung in Österreich ein. Zudem weisen sie ein hohes Maß an Übereinstimmung mit ersten Maßnahmen in der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland auf. So bemühten sich Politoffiziere der sowjetischen Armee darum, österreichische Kommunisten, Sozialisten und die Volkspartei unter einem Dach zusammenzuhalten. Darüber hinaus ließen sich die Besatzer im Alltag von ihrer seit der Vorkriegszeit ausgeprägten Furcht vor vermeintlich allgegenwärtigen, sogenannten konterrevolutionären Verschwörungen leiten. In der Aufgabenbeschreibung für die Sicherungstruppen standen Maßnahmen gegen "Spione", "Diversanten" und "Terroristen" ganz oben (u.a. Dokument 30). Dagegen wurde die Aufklärung von Kriegs- und nationalsozialistischen Gewaltverbrechen weitaus weniger intensiv betrieben. Damit korrespondierte die besondere Aufmerksamkeit der sowjetischen Vertreter für in das Dritte Reich deportierte sowjetische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Moskau sorgte sich hierbei bekanntermaßen weniger um das Wohl der verschleppten Bürger, als um deren Loyalität. Im Fall der von den britischen Truppen ausgelieferten Verbände, die für Deutschland gekämpft hatten, ging es denn auch gar nicht um eine Aufarbeitung von Motiven und Handlungen der "Vaterlandsverräter": Vielmehr stimmten sich sowjetische Behörden mit politischen Vorträgen über "'Vlasov-Leute' - Verräter der Heimat" auf die Übernahme ein (Dokument 108).
Für die österreichische Bevölkerung waren gezielte Verhaftungen ein wesentlicher Aspekt sowjetischer Besatzungsherrschaft. Für konkretes Erleben und historisches Gedächtnis spielten befehlswidrige, ständig wiederkehrende Übergriffe sowjetischer Soldaten eine ebenso große Rolle. Plünderungen und Diebstähle sowie zahlreiche Vergewaltigungen durch nüchterne oder alkoholisierte Besatzungssoldaten trugen ihren Teil dazu bei, dass die Steirer im Juli 1945 die Briten als "doppelte 'Befreier'" (42) herbeisehnten. Sowjetische Dokumente verweisen in diesem Zusammenhang wohl mit einigem Recht darauf, dass Österreicher - wie Deutsche - den Einmarsch von Osten her grundsätzlich ganz anders betrachteten als das Vorrücken der westlichen Verbündeten. In österreichischen Augen standen alle sowjetischen Militärangehörigen offenbar auf einer Stufe mit den vielgeschmähten "dunkelhäutigen" Kolonialtruppen Großbritanniens (Dokument 59, 226). Es sind derlei Einzelansichten über Besatzungsalltag oder -mechanismen, die die Lektüre des recht umfangreichen Dokumententeils besonders lohnend erscheinen lassen. So setzte sich der Chef der NKVD-Truppen im Juni 1945 mit unerwarteten Rückwirkungen sowjetischer Kriegspropaganda auseinander und bemängelte, dass Gefechtsberichte seiner Einheiten vor "unangebrachten, ausschweifenden Formulierungen, z.B.: [...] neuerliche Hunderte Leichen der Hitler-Soldaten lagen vor der Verteidigungslinie" strotzten, aber ohne jeden militärischen Nutzen waren (Dokument 84). Derselbe Bericht verdeutlicht einmal mehr, dass in der real existierenden Sicherheitspolitik die Meldung von wenigen Festnahmen von "Verdächtigen" bei Vorgesetzten zunächst einmal Kritik und Argwohn hervorrief (313).
Als Fazit ist festzuhalten, dass der Dokumentenband vor allem Einsichten in das frühe sowjetische Besatzungsprozedere und deren Prioritäten bestätigt und zugleich weiterführende Einblicke in Perspektiven und Wahrnehmungsmuster von Besatzern und Besiegten zulässt.
Anmerkungen:
[1] Begriff nach Manfried Rauchensteiner: Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955, Graz 1995.
[2] Beispielhaft die Debatte im Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2005): Wolfgang Mueller: Die gescheiterte Volksdemokratie. Zur Österreich-Politik von KPÖ und Sowjetunion 1945 bis 1955, 141-170; sowie Stefan Karner / Peter Ruggenthaler: Stalin und Österreich. Sowjetische Österreich-Politik 1938 bis 1953, 102-140.
Andreas Hilger