Silke Satjukow: Besatzer. "Die Russen" in Deutschland 1945-1994, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, 405 S., 6 Abb., 10 Tab., ISBN 978-3-525-36380-5, EUR 34,90
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Die sowjetischen Truppen waren "konstitutiver Teil der DDR-Realität", schrieb 1995 Timothy Garton Ash. Ihre Habilitationsschrift, die sie als "um einen kulturhistorischen Ansatz" erweiterte "Politik-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der sowjetischen Besatzung" vorstellt, fokussiert Silke Satjukow auf das Verhältnis zwischen der "Gruppe" der sowjetischen Truppen in der DDR und der DDR-Bevölkerung. Die Arbeit besteht aus vier Teilen und beginnt mit dem Abzug der Truppen, im 2. Kapitel wird der Bogen unter der Überschrift "die Zeit der Besetzung" "vom Kriegsende bis 1961" gespannt, die Phase von 1961 bis 1994 figuriert als "die Zeit der Besatzung". Im Schlusskapitel stellt sie "Besatzer und Besetzte" vor dem Hintergrund der Theorie einer wechselseitigen Grenzziehung vor. Darin isoliert die Verfasserin vier "Zäsuren und Konjunkturen" von "generationsspezifischen Annäherungen und Distanzierungen": 1947 (Isolation der Truppen von der deutschen Bevölkerung und Fraternisierungsverbot), Juni 1953 (neue Kompromisse im Zuge der SED-Politik des "Aufbaus des Sozialismus" und der Demonstration der militärischen Stärke der UdSSR in der DDR, die sich in der Souveränitätserklärung von 1954 und im Stationierungsabkommen von 1957 manifestieren), 1961 (der Bau der Mauer beendete die "Phase der Besetzung", "die Mythen waren verfasst", "es begann die Phase der Besatzung, der jahrzehntelangen Einübung gangbarer Kompromissformen"). Eine vierte Zäsur wird Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre gesetzt, als die sowjetische Afghanistan-Intervention, Glasnost und Perestroika den eingeübten Umgang in Frage gestellt hätten (316f.). Der gemeinsame "Mythos der Befreiung" zerbrach an der generationsspezifischen Differenzierung, das Bündnis zwischen Besatzern und Besetzten, zwischen Befreiern und Befreiten löste sich auf.
Konzeptionell verstellt die Singularisierung der Besetzung/Besatzung/Befreiung der DDR auf die "gesamtdeutsche Vorgeschichte" den Blick auf einen spezifischen Aspekt des ostdeutsch-sowjetischen Verhältnisses: "Russen" dienten in der DDR nämlich gleich zweifach als "Projektionsfläche für die Verschiebung von Schuld", wie die Verfasserin stellenweise überhöht argumentiert: Das zweite Mal zumindest "parteioffiziös" bei der Kompensation der "stalinistischen Deformation". Oder anders formuliert: Die Distanzierung von der Hegemonialmacht wirkte in Verbindung mit dem kollektiven Eskapismus der DDR-Deutschen (den Satjukow an einigen Stellen als "kulturelle Überlegenheit" anspricht, Rudolf Herrnstadt schrieb 1948 noch vom "wahrhaft blödsinnigen Dünkel") legitimationsstiftend. Nicht thematisiert werden auch die militärpolitische Bedeutung der "Gruppe", die "polnische Entwicklung" in den 1970/1980er Jahren, die "Ölpreiskrise" oder die NATO-Nachrüstung zu Beginn der 1980er Jahre, obwohl sie Relevanz hatten. Dafür scheint oft Unspezifisches zur sowjetisch-ostdeutschen Grenzziehung herangezogen worden zu sein, das bei näherem Hinsehen nur allgemeine völkerrechtliche Vertragsfragen mit viel "Seelenlärm" koloriert. Nicht unbedingt spezifisch war auch die bereits 1945 erfolgte Kasernierung, weil sie traditionell üblich war. Die im Sommer 1947 erfolgte "totale räumliche und psychische Isolierung der Truppen" (62), als auch höhere Offiziere und zivile Angestellte in gesonderten "Sperrgebieten" von der deutschen Bevölkerung separiert wurden, stand bereits unter anderen Vorzeichen. Allerdings blieb die Besatzungsverwaltung als Träger von Ordnungsfunktionen noch einige Jahre im öffentlichen Raum präsent. Die Fraternisierung mit Deutschen war nebenbei auch in der SBZ schon 1945 verboten worden und nicht erst 1947. Neu kam jedoch hinzu, dass die "Gruppe" nun auch von der "westlichen Dekadenz" isoliert und als "Ansteckungsherd" für die Heimat unter Quarantäne gestellt wurde, wie 1961 dann die gesamte DDR. Dieser "strukturelle" Abgrenzungsfaktor wird nur indirekt reflektiert. Generell bleibt dabei zu beachten, dass die 1940er Jahre durch russisches und dann wieder vor allem die 1980er Jahre durch Aktenmaterial des Staatssicherheitsdienstes der DDR vergleichsweise gut dokumentiert sind. Beachtung hätte daher die Frage verdient, welchen Einfluss diese für die 1950er Jahre sehr erheblichen Überlieferungslücken auf die Theoriebildung hatten.
Opfer der fragmentierten und durchaus tückischen Quellenlage wurde die Verfasserin an einigen Stellen, so beispielsweise bei der Konstruktion der "mythischen Grunderzählung von der Befreiung" (312), als "die Besatzer dem deutschen Volk die Hand zur Versöhnung reichten", vorgestellt als Stalins Großtat zur Gründung der DDR. In Wirklichkeit wiederholte das Zitat aber nur die deutsche Ambition von 1945, wie sie Grotewohl, Koch, Hermes u.a. "als die allerersten Opfer Hitlers" vortrugen. Die sowjetische Zensur kassierte die Originalbelege und DDR-Archivare später auch die Kopien. Dies als Randnotiz zu einigen Propagandabildern, die Satjukow zwar abwertend "Propageme" nennt, aber an einigen Stellen als authentische Sachbelege benutzt. Über einiges kann man hinwegsehen: Etwa über die "als Vorsichtsmaßnahme" kommentierte Ablösung von Tschujkow durch Gretschko als Oberbefehlshaber im Mai 1953 (73). Es handelte sich um einen Routineaustausch. "Vorsichtshalber" flog man erst am 17. Juni 1953 zwei Marschälle nach Ostberlin ein.
Das Buch ist materialgesättigt, aber nicht leicht zugänglich, weil assoziativ-puzzlehaft sortiert. Es transportiert viele wertvolle Fakten, die Quellenbelege sind aber auch deshalb einzeln zu studieren, weil bisweilen kühne Argumentationsbögen gespannt werden, die nicht immer belastbar sind. Tollkühn wirken sie im Zusammenhang mit der behaupteten Veränderung der nationalen Zusammensetzung der "Gruppe" und dem angeblichen Traditionsbruch. Mit dem Beginn des Afghanistankrieges seien aus der DDR "Eliteeinheiten" zum Kampfeinsatz in den Hindukusch abgezogen worden und in die DDR sei Ersatz aus den "mittelasiatischen Landesteilen" gekommen - (245: Die russische Quellenangabe ist nebenbei nicht auflösbar). Selbst dann, wenn das Afghanistan-Kontingent von 100.000-120.000 Mann zur Gänze aus der DDR abgezogen worden wäre, wäre dafür aber etwa nur ein Fünftel des Truppenbestandes nötig gewesen bzw. grob geschätzt weniger als ein Zwanzigstel eines sowjetischen Wehrpflichtigenjahrgangs. Und selbst dann, wenn man solche und weitere spezielle Details (1981 Kriegsrecht in Polen, NATO- Raketennachrüstung) nicht näher prüfen will, hätte es zumindest kommentiert werden müssen, wieso 1988 nach Aussagen des sowjetischen Verteidigungsministers 30 Prozent der sowjetischen Soldaten nicht russisch lesen konnten (127: zitiert nach BStU-Archiv, in dem sich die Arbeitsübersetzung eines Redebeitrags vom 27. Parteitag der KPdSU von 1986 befindet). Russisch war doch schon seit 1938 in der UdSSR Unterrichts-Pflichtsprache. Und auch wenn der Anteil der sowjetischen Rekruten "aus Mittelasien und Kaukasus" 1988 bei 37 Prozent lag (124), heißt es nicht, dass die "Gruppe" in der DDR nach dem Prinzip der statistischen Repräsentation aufgestellt wurde.
Infolge der ethnischen Fragmentierung verfiel schon Anfang der 1980er Jahre die Moral der Truppe (134) und zwischen 1970 und 1989 machten Straftaten sowjetischer Soldaten zum Nachteil der DDR-Bevölkerung statistisch gesehen 0,7 bis 2,5 Prozent der DDR-Strafdelikte aus. Übersehen wird dabei aber, dass somit die Truppenangehörigen deutlich unterdurchschnittlich kriminell waren, denn ihr Anteil an der DDR-Bevölkerung betrug etwa 3,5 Prozent, zudem handelte es sich im Vergleich um eine besonders aktive, männlich dominierte Altersgruppe. Damit lag eher ein Indiz für die Isolation der "Gruppe" von der DDR-Gesellschaft vor. Spätestens hier schlägt die stellenweise auftretende Irritation in Ratlosigkeit um. Insgesamt drängt sich der Verdacht auf, dass am Ende der 1980er Jahre "in geheimen DDR-Regierungspapieren", die intensiv als Quellen genutzt wurden, nur das repetiert wurde, was das Volk unmittelbar nach Kriegsende spontan wahrgenommen und in die Sphäre der "informellen sozialen Kommunikation" "verdrängt" hatte: Der "Mongole" von 1945 mutierte nur zum "Mittelasiaten" und "Kaukasier" und konvertierte zum Islam. Nebenbei hätte die Verfasserin sich selbst und auch dem Benutzer einen Dienst erwiesen, wenn sie die Belege skrupulöser präsentiert hätte: Einige zitierte amtliche Informationen stammen nämlich offenbar nur vom Hörensagen und ein Teil von ihnen ist sachlich falsch. Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Wertewandel in der DDR der 1980er Jahre und vor allem die gewachsene Sensibilität der Öffentlichkeit sind unstrittig, zweifelhaft erscheinen nur der vorgestellte Begründungszusammenhang und die Annahme einer kontinuierlichen, linear progressiven Entwicklung. Sie scheint vielmehr nicht vorzuliegen. In das vorgestellte Konstrukt lässt sich auch nicht einordnen, warum 1990 das "Russen"-Bild der DDR-Bürger (und der Westberliner) wesentlich skeptischer ausfiel als das der Westdeutschen. Stellenweise scheinen nicht hinreichend "gegengeprüfte" Wahrnehmungselemente zur Rekonstruktion der Wirklichkeit benutzt worden zu sein.
Belassen wir es aber bei solchen Zweifeln, denn aus Platzgründen können hier Belege nicht einzeln zerbröselt, der Generationsbegriff problematisiert oder gar auf "eine entideologisierte, individualistisch denkende Jugend" in der UdSSR eingegangen werden, die - vermutlich ab den 1960er Jahren -, "anders als ihre Großväter und Väter, nicht mehr bereit [war], Opfer für die Sache des Sozialismus zu erbringen" (142). Als Indiz verweist Satjukow auf die ansteigenden Desertionsfälle. Ihre in den Quellen ohnehin übertriebene Zahl sank aber 1988 auffallend stark, und der "Betriebsausflug" der "Gruppe" in die Tschechoslowakei 1968 wurde von der Autorin wohl schlicht übersehen. Zudem bleibt es zweifelhaft, ob "Russen" wirklich wie "Deutsche" funktionieren. Nicht nur deshalb, weil Ideologie in der Sowjetunion, glaubt man russischen Soziologen, ab 1956 keinen sozialformativen Stellenwert mehr hatte, während die DDR eine Kopfgeburt blieb.
Eine beeindruckende Arbeit, die wegen der eigenwilligen Struktur kritisch gelesen werden muss, um ihre Qualitäten zu erkennen. Beim Lesen stellt sich freilich oft das Gefühl ein, dass weniger mehr gewesen wäre.
Jan Foitzik