Dietmar Süß / Winfried Süß (Hgg.): Das "Dritte Reich". Eine Einführung, München: Pantheon 2008, 393 S., ISBN 978-3-570-55044-1, EUR 14,95
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Die Geschichtsschreibung über das 'Dritte Reich' boomt - das ist seit vielen Jahren nicht zu übersehen. Die Forschungslandschaft ist heute enorm weitläufig und facettenreich: Gänzlich weiße Flecken scheint es auf der historischen Landkarte nicht mehr zu geben.
Diese Feststellung dient auch häufig als Einstieg für Rezensionen allgemeiner Darstellungen des 'Dritten Reiches' - aus gutem Grund. Denn die Wissensinflation der NS-Geschichte hat ihren Preis: Selbst Experten kommen inzwischen mit dem Lesen nicht mehr nach. Schließlich vergeht fast keine Woche mehr ohne wichtige Veröffentlichungen zum Thema; allein die Lektüre aller Rezensionen ist inzwischen eine Vollzeitbeschäftigung. Umso wichtiger sind umfassende Überblicksdarstellungen zur NS-Diktatur geworden. Doch auch solche Studien sind mittlerweile - den Forschungsstand reflektierend - auf stattliche Länge angewachsen. So kommt die Hitlerbiografie von Ian Kershaw in der Originalausgabe auf knapp 2000 Seiten, während die Geschichte des 'Dritten Reiches' von Richard J. Evans mit mehr als 2500 Seiten zu Buche schlägt. [1]
Es besteht daher auch Bedarf an kürzeren Einführungen in die NS-Zeit, sozusagen fürs Handgepäck. Und in deutscher Sprache gibt es keine bessere Übersicht des aktuellen Forschungsstandes als das hier zu besprechende Taschenbuch, herausgegeben von Dietmar und Winfried Süß. In diesem Band sind 16 Beiträge - jeweils um die 20 Seiten lang - zu verschiedenen Aspekten der NS-Diktatur versammelt. Jeder Text bietet sowohl eine prägnante Darstellung der Forschungsmaterie als auch einen Überblick über die Historiografie. Es kommen dabei meist Vertreter der jüngeren Historikergeneration zu Wort, die viele neue Impulse zur Erforschung des 'Dritten Reiches' gegeben hat. Zwar stammen fast alle Autoren aus Deutschland, doch schauen sie immer wieder über die Grenzen hinaus; anders als bei einigen anderen deutschen Publikationen kommen die Erträge der internationalen Forschung also nicht zu kurz.
Ziel des Bandes, so erklären die beiden Herausgeber in ihrer kurzen Einleitung, ist die Information "auf knappem Raum über zentrale Themen der NS-Geschichte." Dabei gehe es "nicht um Vollständigkeit, sondern um die pointierte Schwerpunktsetzung." (9) Vier solche Schwerpunkte, so scheint es, haben die Herausgeber gesetzt. Zunächst einmal finden sich in dem Band verschiedene Kapitel zu Institutionen des NS-Staates, wie Wehrmacht (Thomas Schlemmer), Partei (Armin Nolzen), Kirchen (Christoph Kösters), Unternehmen und Rüstungswirtschaft (Michael C. Schneider) und staatliche Verwaltung (Christiane Kuller). Zusammengenommen veranschaulichen diese Beiträge die bekannte polykratische Struktur des NS-Regimes.
Ein zweiter Schwerpunkt liegt auf wichtigen Entwicklungen in Politik und Gesellschaft. Hier zeigt sich deutlich, wie sich die Forschung in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat. So finden sich hier Kapitel zu Themen - von der gesellschaftlichen Stellung von Frauen und Vorstellungen von Weiblichkeit (Sybille Steinbacher) hin zur offiziellen Sprachpolitik und Alltagssprache im Nationalsozialismus (Waltraud Sennebogen) -, die in dieser Form in älteren Gesamtdarstellungen meist unter den Tisch gefallen sind. Dazu kommen scharfsinnige Beiträge zur Propaganda und Wirklichkeit der NS-"Volksgemeinschaft" (Dietmar und Winfried Süß), zum abweichenden Verhalten im NS-Staat (Alfons Kenkmann), zur Entwicklung von Wissenschaft und Forschung (Rüdiger Hachtmann), sowie zum Antisemitismus und Judenmord (Alan E. Steinweis).
Der zuletzt genannte Beitrag spannt den Bogen zum dritten Schwerpunkt des Bandes: Die Einordnung des NS-Regimes, in den Worten der Herausgeber, in die "europäische[n] Gewaltgeschichte der Moderne." (9) Neben dem Beitrag über den Holocaust geben zwei weitere Kapitel eine Übersicht über Europa unter dem Hakenkreuz, konkret zur Außenpolitik (Philipp Gassert) und zur Besatzungspolitik (Dieter Pohl) des NS-Staates. Dazu kommt ein besonders gut ausgearbeiteter Beitrag zum europäischen Faschismus in der Zwischenkriegszeit (Martin Baumeister), der den Nationalsozialismus in den breiteren (west-)europäischen Kontext einbettet.
Der letzte Schwerpunkt liegt auf der Nachgeschichte des 'Dritten Reiches'. Gerade hier hat sich in der jüngsten Forschung viel getan, mit neuen Erkenntnissen zu Erinnerung und Gedenken, Schuld und Schulden, Recht und Gerechtigkeit. In dem vorliegenden Sammelband werden diese Themen in zwei Beiträgen - aus deutscher Sicht (Christoph Classen) und internationaler Perspektive (Jan Eckel und Claudia Moisel) - behandelt. Beide Artikel diagnostizieren dabei in der Gedenkkultur eine verstärkte Trennung des Nationalsozialismus von seinen historischen Wurzeln: Das 'Dritte Reich' auf dem Weg zu einem "ebenso globalen wie chiffrenhaften Referenzpunkt" (351), einer "austauschbaren Metapher für alles Böse." (328) Die Ironie der Geschichte: Während die historische Forschung zur NS-Zeit immer detaillierter wird, droht die öffentliche Erinnerung mehr ins Allgemeine abzugleiten.
Insgesamt werden in dem Sammelband viele wichtige Aspekte der NS-Geschichte behandelt. Ein vollständiger Überblick entsteht dabei nicht. So kommen einige Themen wie Generation und Kultur zu kurz, ebenso wie Hitlers Stellung im NS-Machtgefüge und die Entwicklung des Terrorapparates (Auschwitz taucht zum Beispiel nur am Rande auf). Was die internationale Dimension angeht, hätte ein Beitrag zum Verhältnis des Holocaust zu anderen Genoziden ein weiteres wichtiges aktuelles Forschungsfeld eröffnet. Aber: Solche Lücken lassen sich leicht anmahnen - ist es doch bei Sammelbänden dieser Art immer unmöglich, alle Rezensentenwünsche zu erfüllen. Außerdem geht es den Herausgebern ja gar nicht um eine Gesamtübersicht. Ihr Anspruch ist ein anderer: Sie wollen eine prägnante Einführung zu wichtigen Themen der NS-Geschichte geben. Und das ist ihnen eindrucksvoll gelungen. Die Beiträge sind durchweg flüssig geschrieben und klar strukturiert. Dazu kommen zahlreiche praktische Hilfsmittel: So folgt jedem Beitrag eine kurze Liste mit weiterführender Literatur. Im Anhang findet sich dann noch eine ergänzende Auswahlbibliografie, sowie eine Übersicht über Internetressourcen und eine Zeittafel. Dagegen fehlt leider ein Index, ebenso wie zusätzliche Landkarten.
Kurz gesagt: Als Einstieg in die Materie - vor allem für Studienanfänger und allgemein interessierte Leser - ist der Sammelband ausgezeichnet und sehr zu empfehlen.
Anmerkung:
[1] Ian Kershaw: Hitler. 1889-1936, London 1998; ders.: Hitler. 1936-1945, London 2000; Richard J. Evans: The Coming of the Third Reich, London 2003; ders.: The Third Reich in Power, London 2005; ders.: The Third Reich at War, London 2008.
Nikolaus Wachsmann