Anja Pistor-Hatam / Antje Richter (Hgg.): Bettler, Prostituierte, Paria. Randgruppen in asiatischen Gesellschaften (= Beiträge des Zentrums für Asiatische und Afrikanische Studien der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Bd. 12), Schenefeld: EB-Verlag 2008, 210 S., ISBN 978-3-936912-53-1, EUR 23,00
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Der zu besprechende Sammelband ist aus einer Ringvorlesung hervorgegangen, die das an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel beheimatete Zentrum für Asiatische und Afrikanische Studien (ZAAS) im Sommersemester 2006 durchgeführt hat. Betrachtet wurden verschiedene Randgruppen sowohl in asiatischen Gesellschaften wie auch im vormodernen Schleswig-Holstein. Schmerzlich fehlt bei dem Band eine Einleitung, in der Begriffe wie Marginalität, Randgruppen und Außenseiter geklärt und die ganze Thematik in die spätestens seit Foucault überaus lebhafte Debatte über die diskursive Konstruktion von Gruppenzugehörigkeiten eingebettet worden wäre. Hier hätte darüber hinaus auch der Ort sein können zu fragen, inwieweit es möglich und sinnvoll ist, die weitgehend an europäischem Material orientierten geschichtswissenschaftlichen Forschungsansätze zu dem hier interessierenden Thema auf außereuropäische Verhältnisse zu übertragen. So bleiben neun lose miteinander verbundene Aufsätze, von denen aus Gründen des beschränkten Platzes sechs näher vorgestellt werden. Die Präsentation erfolgt entlang der ausgezeichneten und sehr sinnvollen englischen Abstracts zu Beginn des Bandes. Horst Brinkhaus (1) geht in seinem Beitrag "'Unberührbare' im Hindu-Königreich Nepal" auf die Gruppe der Dyahla ein. In dem um 1800 gegründeten hinduistischen Königreich von Nepal fügten die politischen Führer die multiethnische Bevölkerung zu einer Gesellschaft zusammen, in der das Kastensystem konstitutionell festgelegt wurde. Daran haben auch einige halbherzige Reformversuche im 20. Jahrhundert nichts geändert. Vor allem die in der sozialen Hierarchie weit unten stehenden Gruppen leiden unter diesem System. Ob sich die Situation für die Dyahla durch die in den letzten zehn Jahren mit großem Ernst durchgeführte maoistische Rebellion in Zukunft ändern wird, bleibt eine offene Frage.
Wanderarbeiter in China sind der Gegenstand, mit dem sich Florian Feuser (2) in seinem Artikel befasst. Eine genaue Zahl dieser hochmobilen "floating population" existiert bedauerlicherweise nicht, obgleich die mit diesem Phänomen verbundenen politischen, ökonomischen und sozialen Implikationen von großer Bedeutung sind. Feusers Studie gibt eine kurze Diskussion des Migrationsbegriffes und überträgt ihn dann auf die chinesische Situation. Eine Analyse der öffentlichen Perzeption und Re-Evaluierung dieser Gruppe verdeutlicht den ambivalenten Charakter der Interpretation der Zentralregierung. Auf der einen Seite sieht man die "floating population" als ein Element der Destabilisierung an, auf der anderen Seite ist man sich aber auch darüber im Klaren, dass die Wanderarbeiter einen sehr wichtigen und unverzichtbaren ökonomischen Faktor darstellen.
Bettler im vormodernen Nahen Osten stehen dann im Mittelpunkt der Ausführungen von Konrad Hirschler (3). Bettler gehörten zu den alltäglichen Erscheinungen in den mittelöstlichen vormodernen Gesellschaften. Dieser Artikel diskutiert daher die Frage, ob Bettler in diesem Umfeld überhaupt zu den marginalen Gruppen gezählt werden dürfen. Während der Zeit vom 13. bis zum 16. Jahrhundert wurde in Ägypten und Syrien die Bettelei sehr differenziert gesehen: Das moralische Recht zu betteln beschränkte sich vom juristischen Standpunkt aus auf diejenigen, die nicht durch ein Familiennetzwerk unterstützt wurden und aufgrund einer Behinderung oder ihres hohen Alters unfähig zur Arbeit waren. Dem gegenüber standen organisierte Bettler, die zu den sogenannten Banu Sasan zählten und in der Tat von der Mehrheitsgesellschaft als marginal angesehen wurden. Sie selbst empfanden sich als homogene Gruppe und entwickelten eine eigene Identität und eine eigene Sprache. Bettler einiger mystischer Orden sahen sich wiederum als normale Mitglieder der Gemeinschaft an, obwohl die Gesellschaft selbst sie in der Regel nicht akzeptierte. Eine weitere Gruppe, die ständig von den Gelehrten kritisiert wurde, waren die im urbanen Umfeld tätigen Bettler. Da sie jedoch die kulturellen Normen (= Aussehen und Sprache) erfüllten, standen sie zwar am Rande der Gesellschaft, doch waren sie nicht wirklich marginal. Die zweite Frage des informativen Artikels berührt die Natur der Beziehung zwischen den Machteliten und den Bettlern. Repressive Maßnahmen waren eher die Ausnahme, ebenso die Tendenz der 'normalen' Bettler, sich grundsätzlich zu Verbünden und Interessensgemeinschaften zusammenzuschließen. Beides begann erst in osmanischen Zeiten.
Anja Pistor-Hatam (4) geht in ihrem Beitrag auf die religiöse und gesellschaftliche Praxis der Sklaverei im Osmanischen Reich ein. Für gewöhnlich durchliefen die importierten Sklaven verschiedene Phasen: 1. Trennung von ihrer Vergangenheit, ihren Familien und ihrem sozialen Leben. 2. Erziehung in einer neuen Gesellschaft, um ein vorzeigbarer Teil des Haushaltes ihres Herren zu werden. 3. Integration in die neue Gesellschaft. Falls die Sklaven zum Islam übertraten, konnten sie freigelassen und damit Mitglieder der islamischen Umma werden. Hatte man das Glück, im Palast des Sultans gelandet zu sein, konnte man eventuell den Sprung in die Reihe der Elitesklaven (wie Odalisken, Sultansmütter oder Eunuchen) schaffen. Der Großteil der Sklaven scheint jedoch durch die Versklavung und die Trennung von ihrem gewohnten Umfeld traumatisiert worden zu sein. Im Osmanischen Reich gehörten die Sklaven bemerkenswerterweise nicht zu den marginalen Gruppen. Obgleich sie zu Beginn ihrer Versklavung ihre persönliche Ehre und ihre soziale Position verloren, war es ihnen möglich, diese wiederzugewinnen und Teil des Herrenhaushaltes und dadurch zu Mitgliedern der osmanischen Gesellschaft zu werden.
Florian Riedler (5) untersucht das Phänomen der saisonalen Arbeitsmigration in das osmanische Istanbul während des 19. Jahrhunderts. Wie auch in anderen vormodernen Städten bildeten in Istanbul die Saisonarbeiter einen wichtigen Teil der städtischen Wirtschaft. Sie waren in Berufen beschäftigt, die harte physische Arbeit erforderten. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts machte diese Gruppe etwa 30% der männlichen Bevölkerung in der Hauptstadt aus. Bevölkerungsregister enthüllen, dass sie größtenteils aus ärmlichen Gebirgsregionen aus dem Balkan oder aus Anatolien stammten. Obgleich die Saisonarbeiter einen festen Platz in der städtischen Ökonomie hatten und in Gilden integriert waren, lebten sie aufgrund ihres Rechtsstatus als Fremde und aufgrund ihrer schwierigen wirtschaftlichen Lage an den Rändern der städtischen Gesellschaft. Unter gewissen Umständen konnten die Autoritäten diesen marginalen Stand ausnutzen und große Teile dieser Gruppe aus der Stadt ausweisen lassen. Florian Riedler beschreibt zwei Situationen, in denen von diesen Repressionsmaßnahmen Gebrauch gemacht wurde: Die Auflösung der Janitscharen 1826 und in Zeiten von Seuchen und Hungersnöten.
Otto Ulbricht (6) schließlich betrachtet in seinem ausgezeichneten Beitrag das Verhältnis von Verstaatlichung, marginalen Gruppen und Lynchjustiz zur Zeit des Absolutismus in Schleswig-Holstein. Die durchaus verbreitete Praxis, das Recht in die eigenen Hände zu nehmen, wurde von einer Reihe von Faktoren unterstützt. Zuallererst durch die Tatsache, dass die staatliche Kontrolle in ländlichen Gegenden so gut wie nicht vorhanden war. Darüber hinaus zielte die staatliche Rechtssprechung auf den Ausschluss mobiler arbeitsloser Gruppen. Schließlich durch das Bild der marginalen Gruppen, das in Erlassen und Edikten gezeichnet wurde und soziale Vorurteile aufbaute und schürte. Diese Vorurteile sah man in den Verbrechen bestätigt, die die Mitglieder der diffamierten Randgruppen begingen. Der Verfasser interpretiert somit Lynchjustiz als das Ergebnis und als Demonstration sozialer Kontrolle in ihrer extremsten Form. Ausgeübt wurde sie von einem gewissen Segment der Bevölkerung, dessen Sichtweise andere Teile der Gesellschaft nicht unbedingt teilten. Die Strafen, die die Gerichtshöfe gegen diejenigen, die die Selbstjustiz durchführten, aussprachen, waren aus verschiedenen Gründen sehr milde. Ein Grund war die mangelnde Macht der lokalen Gerichtshöfe an der Peripherie eines Staates. Darüber hinaus erkennt man gewisse Spannungen zwischen der Sicht der involvierten Rechtsschulen und der Meinung der Gerichtshöfe. Die Juristischen Fakultäten betonten stets, dass auch ein Straftäter durch das Gesetz gegen Lynchjustiz geschützt sei. Wenn dieses Grundprinzip von den Machtträgern angenommen wurde, konnte dies eine bessere Zukunft für die betroffenen Gruppen bedeuten.
Der sehr lehrreiche und in seiner Interdisziplinarität trotz fehlender Einleitung vorbildliche Sammelband wird ergänzt und abgerundet durch die Beiträge von Josef Wiesehöfer ("Die Mazdakiten: 'Häretiker' im sassanidischen Iran"), Beatrix Hauser ("Die Kunst des Schmeichelns und Ermahnens: Inszenierungsstrategien bengalischer Bildvorführer patuya") und Melanie Köhlmoos ("'Was bleibt ihr denn übrig?' Krieg und Prostitution im Alten Testament").
Stephan Conermann