Konstanze Braun: Dr. Otto Georg Thierack (1889 - 1946) (= Rechtshistorische Reihe; Bd. 325), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005, 287 S., ISBN 978-3-631-54457-0, EUR 51,50
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Die prominenteste historische Figur unter den Juristen des NS-Regimes, die den Paragraphen zum Mordwerkzeug umschmiedeten, ist zweifelsohne Roland Freisler. Vor allem die "Kunst" des vormaligen Staatssekretärs im Justizministerium, sich und seine "Rechtsprechung" als Präsident des Volksgerichtshofs von 1942 bis 1945 effektvoll in Szene zu setzen, die bei den Prozessen gegen die Angehörigen des 20. Juli 1944 auch filmisch festgehalten wurde, hat ihm einer dauerhaften Platz im historischen Gedächtnis verschafft. Immerhin zwei Biographien und eine rechtsphilosophische Studie sind ihm gewidmet [1]. Auch zu Hitlers erstem Justizminister, Franz Gürtner, liegen zwei Biographien vor [2]. Und während selbst zu den Staatssekretären im Justizministerium Schlegelberger [3] und Rothenberger [4] biographische Studien geschrieben wurden, ist Freislers Vorgänger als Volksgerichtshofspräsident und Gürtners Nachfolger als Justizminister Otto Georg Thierack lange Zeit im Schatten geblieben. In diese Lücke ist Konstanze Braun mit ihrer Studie vorgestoßen, die 2005 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen wurde und an - jedenfalls für das prominente Thema - etwas entlegener Stelle erschienen ist.
Als Objekt einer Biographie ist der am 19. April 1889 im sächsischen Wurzen als Sohne einer Kaufmannsfamilie geborene Otto Georg Thierack allerdings in doppelter Hinsicht wenig attraktiv. Zu einen ist kein persönlicher Nachlass überliefert, zum anderen war er offenbar alles andere als eine vielschichtige Persönlichkeit. Folgt man Brauns Darstellung, ergibt sich das Bild eines typischen Nazikarrieristen, der - definitionsgemäß - über Leichen ging. Mit durchschnittlichen Examensnoten und nach einer vierjährigen Erfahrung als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, trat er 1920 in den sächsischen Justizdienst ein, wo er in verschiedenen Staatsanwaltschaften tätig war, offenbar ohne sonderlich aufzufallen. Dass der 1932 der NSDAP Beigetretene übermittelbar nach der Machtübernahme zum sächsischen Justizminister wurde, legt nahe, dass spätere Hinweise, er habe schon als Staatsanwalt der "Bewegung" wertvolle Dienste geleistet, nicht ganz ohne Substanz sind.
Die Position eines Landesjustizministers war im "Dritten Reich" eine befristete, da das NS-Regime die "Verreichlichung" der Justiz energisch vorantrieb. Im Unterschied zu seinen Kollegen Hans Frank (Bayern) und Hans Kerrl (Preußen), die sich dabei in Positionskämpfe verstrickten, gab sich Thierack als loyaler Vollstrecker übergeordneter Interessen und wurde nach Auflösung seines Ministeriums 1935 mit der Position eines Vizepräsidenten des Reichsgerichts bedacht - für einen Mann, der zuvor noch nie ein Richteramt bekleidet hatte, ein beachtlicher Sprung. Nach einem Jahr wurde Thierack am 1. Juni 1936 zum Präsident des im Juli 1934 errichteten Volksgerichtshofs ernannt, eine Position, die wegen des Todes seines Vorgängers Fritz Rehn im September 1934 anderthalb Jahre lang verwaist gewesen war. Dem Volksgerichtshof waren die Kompetenzen des Reichsgerichts in Hoch- und Landesverratsverfahren übertragen waren. Thierack setzte sich energisch für die Gleichstellung des erst kurz vor seinem Amtsamtritt überhaupt ordentlich etatisierten VGH mit dem Reichsgericht ein. Er war es, der den VGH zu dem berüchtigten justitiellen Terrorinstrument machte. Er nutzte ihn auch als Instrument für sein eigenes Fortkommen, als er 1941 im Einvernehmen mit Reinhard Heydrich und gegen grundlegende Normen verstoßend, den Prozess gegen den Ministerpräsidenten des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren, Alois Eliáš, ohne Einschaltung des Oberreichsanwalts führte und die Gestapo als Anklagebehörde auftreten ließ. Die daraus folgende Auseinandersetzung mit Schlegelberger, der nach dem Tod Gürtners das Justizministerium kommissarisch leitete, gewann Thierack, der sich als Richter nach dem Geschmack Hitlers und der SS profiliert hatte, auf der ganzen Linie. Während er im August 1942 als Chef in das Ministerium einzog, wurde Schlegelberger in den Ruhestand versetzt. Staatssekretär Freisler übernahm den VGH. Von dem in Ungnade gefallenen Hans Frank erbte Thierack auch das Amt des Präsidenten der Akademie für Deutsches Recht und des Leiters des Rechtswahrerbundes.
Dieses Revirement in unmittelbarer zeitlicher Nähe von Hitlers Richterschelte im April 1942 vor dem Reichstag markierte einen Quantensprung bei der Radikalisierung der nationalsozialistischen Justiz. Kurz nach seinem Amtsantritt einigte sich Thierack mit Himmler darauf, strafgefangene Juden, "Zigeuner", Russen und Ukrainer, ferner unter bestimmten Bedingungen, Polen, Tschechen, Sicherheitsverwahrte und deutsche politische Widerständler an die SS auszuliefern. Der Vizepräsident des Volksgerichtshofs Karl Engert, ein "Alter Kämpfer", der als Leiter der Abteilung XV des Justizministeriums unmittelbar an der Überstellung von Justizhäftlingen in KZs zur "Vernichtung durch Arbeit" beteiligt war, behauptete nach dem Krieg, Thierack sei damit einem Vorstoß Himmlers beim "Führer" zuvorgekommen. Doch gibt es wenig Anlass zu glauben, Thierack habe wie noch Gürtner "Schlimmeres verhindern" wollen und dazu eine Strategie des "kleineren Übels" verfolgt. Vielmehr hatte er schon als Präsident des Volksgerichtshofs dafür plädiert, weniger wichtige Fälle durch polizeiliche Einweisung in Konzentrationslager zu erledigen. Und bei der Tagung der "Chefpräsidenten" und Generalstaatsanwälte, die am 29. September 1942, elf Tage nach der Besprechung mit Himmler stattfand, erklärte er den Verzicht auf die Strafgewalt gegenüber Polen, Juden, Russen, Ukrainern und "Zigeunern" damit, dass die Justiz nicht geeignet sei, Wesentliches zur Ausrottung dieser Völker beizutragen. Er bezeichnete es als "Wahnsinn", in den besetzten Gebieten Osteuropas "Gerichte aufzuziehen, noch dazu deutsche Gerichte".
Nicht nur die Vollstreckung von Hinrichtungen, auch die Lenkung der Rechtsprechung trieb Thierack, wie seine Biographin ausführt, energisch voran. Es blieb nicht bei den Richterbriefen und den von seinem ungeliebten und bald wieder verdrängten Staatssekretär Rothenberger erfundenen Vor- und Nachschauen von Verhandlungen. Zuweilen griff der von Untergebenen als rücksichtslos und autokratisch geschilderte Thierack in Verfahren in einer Weise ein, die nicht einmal mehr den eigentlich angestrebten Schein richterlicher Unabhängigkeit wahrte. Eine nichtpolitische Strafsache, von der Hitler aus der Zeitung erfahren hatte und in der er das Urteil für zu milde hielt, wollte der frisch gebackene Justizminister gar dazu nutzen, sich als "Oberster Reichsrichter" einsetzen zu lassen, um als solcher ein Urteil nach dem Gusto des "Führers" zu fällen; er machte dann aber einen Rückzieher.
Das Vertrauen Hitlers genoss er jedenfalls, denn dieser verfügte in seinem "politischen Testament", dass Thierack in der Dönitz'schen Gespensterregierung weiterhin als Justizminister fungieren sollte. Dönitz entschied sich aber für Thieracks letzten Staatssekretär Klemm. Als er sich im Nürnberger Juristenprozess seiner Verantwortung stellen sollte, flüchtete sich der in britischem Gewahrsam befindliche Thierack am 26. Oktober 1946 in den Suizid.
Konstanze Braun stellt seinen Werdegang in klarer und schnörkelloser Sprache auf der Basis umfangreicher Quellenrecherchen dar. Der methodische Ansatz der Arbeit ist jedoch ein rein positivistischer, ohne dass dies in irgendeiner Weise reflektiert wäre. Hier und auch der unzureichenden Einordnung in das Gesamtgeschehen zeigen sich typische Schwächen einer als juristisches Nebenfach betriebenen Zeitgeschichtsschreibung, die Anlass geben, einmal mehr für eine stärkere gegenseitige Wahrnehmung der in vieler Hinsicht unmittelbar benachbarten Disziplinen Rechtsgeschichte und Zeitgeschichte zu appellieren. In Brauns Thierack-Biographie wird etwa der persönliche Anteil ihres Protagonisten an der Berufsverbotspolitik für jüdische Juristen nicht klar, weil sie auf das sogenannte Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ebenso wenig eingeht wie etwa vergleichend auf die Praxis in Preußen oder Bayern. Auch Thieracks wichtige Rolle bei der Nacht- und Nebeljustiz, bei der er ebenfalls große Bereitwilligkeit zur Kooperation mit SS und Gestapo an den Tag legte [5], bleibt unbeleuchtet. Selbst der Versuch einer Einordnung des Justizministers in das Herrschaftsgefüge des NS-Regimes unterbleibt. So ist Konstanze Brauns Studie gewiss nicht das letzte Wort zu Thierack. Nichtsdestoweniger hat sie ein lesenswertes Buch vorgelegt und die Erforschung der NS-Justiz um einen wichtigen Schritt vorwärts gebracht.
Anmerkungen:
[1] Gert Buchheit: Richter in roter Robe. Freisler, Präsident des Volksgerichtshofes. München 1968; Helmut Ortner: Der Hinrichter. Roland Freisler, Mörder im Dienste Hitlers. Wien 1993. Stephan Breuning: Roland Freisler: Rechtsideologien im III. Reich. Neuhegelianismus kontra Hegel. Hamburg 2002.
[2] Neben Ekkehard Reitter: Franz Gürtner, politische Biographie eines deutschen Juristen 1881 - 1941. Berlin 1976, ist auch Lothar Gruchmann zu den Gürtner-Biographen zu zählen, der sein Grundlagenwerk zur Justiz in der Ära Gürtner mit einem umfangreichen biographischen Abriss beginnt; vgl. Lothar Gruchmann: Justiz im Dritten Reich 1933 - 1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner. 3., verbesserte Auflage. München 2001, darin Kapitel I (9 - 83): Justizminister unter Hitler. Das Schicksal des national-konservativen Beamten Franz Gürtner (1881 - 1941).
[3] Michael Förster: Jurist im Dienst des Unrechts. Leben und Werk des ehemaligen Staatssekretärs im Reichsjustizministerium, Franz Schlegelberger (1876 - 1970), Baden-Baden 1995.
[4] Susanne Schott: Curt Rothenberger - eine politische Biographie. Halle/Saale 2001.
[5] Vgl. Lothar Gruchmann: "Nacht- und Nebel"-Justiz. Die Mitwirkung deutscher Strafgerichte an der Bekämpfung des Widerstandes in den besetzten europäischen Ländern 1942-1944, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29 (1981), 342-396.
Jürgen Zarusky