Michael Brenner: Kleine jüdische Geschichte, München: C.H.Beck 2008, 384 S., 91 Abb., 7 Karten, ISBN 978-3-406-57668-3, EUR 24,90
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Wie schreibt man heute jüdische Geschichte? Welche Aspekte und Perspektiven bestimmen eine Gesamtdarstellung in der Gegenwart, in der sich national geprägte Perspektiven zunehmend auflösen, ja in der Konzepte einer homogenen jüdischen Geschichte zunehmend von Fragen nach dem Transfer zwischen Regionen, Kulturen und Kontinenten verdrängt werden? In den letzten Jahrzehnten hat sich das Wissen zu jüdischer Geschichte und Kultur nicht nur enorm diversifiziert. Es ist geografisch wie epochenspezifisch inzwischen so stark angewachsen, dass die jüngste Gesamtdarstellung von einem Autorenkollektiv verfasst wurde. [1]
Auf oben genannte Fragen bietet Michael Brenners "Kleine jüdische Geschichte" Antwort und Anstoß. Selbst Herausgeber bzw. Autor mehrerer Studien zur Historiografiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts skizziert Brenner auf knapp vierhundert Seiten mehr als 3000 Jahre jüdischer Geschichte auf vier Kontinenten. Ohne Fußnotenapparat richtet sich die Studie an Öffentlichkeit und Fachwissenschaft gleichermaßen. Nicht Fachkontroversen stehen deshalb im Mittelpunkt, sondern die Darstellung ist von dem Spagat geprägt, zugleich Einführung in die jüdische Kultur, Religion (und ihre Historizität), aber auch moderne, die jüngere Forschung integrierende Gesamtdarstellung zu sein.
Anstoß und Gewinn der Arbeit liegen in ihrer globalgeschichtlichen Perspektive sowie in ihrer unterschiedlichste methodische Ansätze integrierenden Gesamtdarstellung. Über 20 Kapitel hinweg wird auch quantitativ recht paritätisch jüdisches Leben im antiken Mittelmeerraum, im arabischen und europäischen Mittelalter sowie in der Kontinente übergreifenden Gegenwart nachgezeichnet. Philologische, archäologische, kultur- und sozialgeschichtliche Aspekte werden ebenso berücksichtigt wie religions-, frauen- und wirtschaftsgeschichtliche Kontexte.
Leitmotiv der Gesamtdarstellung Brenners ist die Migration. Denn Ortswechsel und territoriale Neuanfänge haben - häufiger unfreiwillig als gewollt - jüdische Existenz nicht nur immer bestimmt. Migration als Oberthema bestimmt das Buch auch strukturell: So werden in den sehr anregenden Kapiteln zum Verhältnis zwischen Judentum und Islam Herrschafts- wie Abhängigkeitsverhältnisse zwischen diesen einander verwandten wie miteinander konkurrierenden Religionskulturen plausibel gemacht. Tiefenschärfe gewinnt der Vergleich zudem durch die in die Darstellung eingeschalteten Gegenüberstellungen von jüdisch-islamisch wie jüdisch-christlich geprägten Relationen und Asymmetrien, der für die Moderne auch das Judentum im Kontext europäischer Kolonialisierung nicht ausspart. Für dieses noch recht neue Forschungsfeld lohnen sich synchrone wie epochenübergreifende Projekte besonders. Migration als roter Faden erweist sich somit für die Gesamtschau als geschicktes Mittel, Ereignisgeschichte(n) jüdischen Lebens mit Abgrenzungs- und Herrschaftsdynamiken zwischen jüdischen und nicht jüdischen Kulturen zu kombinieren, aber auch kulturelle Austauschprozesse in europäischen, amerikanischen, ja selbst afrikanischen und asiatischen Räumen stärker herauszuarbeiten.
Konsequenterweise geht dieser globale Zugriff mit einer Provinzialisierung des aschkenasisch-westeuropäischen Judentums einher, das lange (und teilweise noch heute) als prototypisches Judentum galt. So finden zwar jüdische Aufklärung und Emanzipation, Hofjuden und Zionismus mit ca. vier von 20 Kapiteln immer dann gebührend Beachtung, wenn sie für die historische Entwicklung im Ganzen von Bedeutung waren. In Wertung und Skizzierung des kulturellen wie mobilen Transfers stehen für die europäische Geschichte der Frühen Neuzeit und Neuzeit Sepharden wie ost-und süd(ost)europäisches Judentum signifikanter im Zentrum als das bislang geschehen ist. Selbst der Schoah wird lediglich noch ein sehr zentrales Kapitel gewidmet. Damit schreibt Brenners Darstellung nicht zuletzt gegen eine Perzeption an, jüdische Geschichte vorzugsweise virtuell und über die ebenso leidvollen wie ambivalenten Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts zu denken.
Der mit jüdischer Geschichte vertraute Leser wird kaum etwas vermissen. Die "Kleine jüdische Geschichte" behandelt die klassischen Themen, ob Messianismus, Chassidismus, moderne Geistesgeschichte oder Sozialismus. Die differenzierte wie historisierende Darstellung der Verwobenheit von Recht, Religion und jüdischer Kultur verweist einmal mehr auf Leerstellen in der Forschung, die entstehen, wenn jüdische Geschichte nur mehr allgemein historisiert daherkommt. Anschaulich wird der Gang durch die Jahrhunderte zudem durch die Integration von Erzählungen und Mythen bzw. mikrogeschichtlichen Miniaturen, die Paradoxien historischer Entwicklung verdeutlichen. Besonders prägnant zeigt dies der Auftakt des letzten zeitgeschichtlichen Kapitels, das mit dem auf Julius Streichers persönlichem Gelände errichteten Kibbuz beginnt; gerade jener wurde für Überlebende Zufluchtsort wie Startpunkt eines neuen Lebens.
Sehr positiv hervorzuheben ist die enge Einbindung von Bildmaterial in die Gesamtdarstellung. Das gilt nicht nur für die schöne Idee, die einzelnen Kapitel mit zeitgenössischen Haggadot zu eröffnen. Ob in der modernen Darstellung eines schwarzen Moses, Gemälden aus der Zeit des sozialistischen Realismus oder der neuen Sachlichkeit, die Fotografien, Plakate und Bilder brechen, unterstreichen oder vervielfältigen die Lektüreeindrücke.
Der Monografie ist eine nützliche Kurzbibliografie wichtiger Gesamtdarstellungen jüdischer Geschichte beigefügt sowie im Anhang eine Liste von Klassikern sowie jüngeren Studien zu einzelnen Epochen. Wirtschaftliche Gründe mögen für die relative Kürze dieser Auflistung verantwortlich gewesen sein. Dass Brenners Gesamtdarstellung sich jedoch auf weitere Überblicks- und Epochenkompendien bezieht, unterstreicht ironischerweise eher die Zirkularität von Publikationsformen. Dieses Buch, das als Kompendium, für die Lehre, die große Perspektive oder zum Schmökern Eingang in die Forschungspraxis finden wird, also auch Arbeitsmittel ist, hätte deshalb um eine Liste wichtiger internationaler und nationaler Zeitschriften sowie ebensolcher Datenbanken ergänzt werden können.
Anmerkung:
[1] David Biale (ed.): Cultures of the Jews. A New History, New York 2002.
Kristiane Gerhardt