Rezension über:

Stefan Wiederkehr: Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland (= Beiträge zur Geschichte Osteuropas; Bd. 39), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, VIII + 398 S., ISBN 978-3-412-33905-0, EUR 49,90
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Rezension von:
Leonid Luks
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Empfohlene Zitierweise:
Leonid Luks: Rezension von: Stefan Wiederkehr: Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5 [15.05.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/05/10036.html


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Stefan Wiederkehr: Die eurasische Bewegung

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Die eurasische Bewegung, die sich 1921 mit ihrer programmatischen Schrift Ischod k Vostoku [Der Auszug nach Osten] lautstark zu Wort meldete, gehörte zu den originellsten Strömungen der "ersten" russischen Emigration (1920-1940). Die von den Eurasiern aufgeworfenen Themen wurden im russischen Exil ausführlich diskutiert. In der zweiten Hälfte der 30er Jahre sollte jedoch diese Bewegung, die zunächst so viel Aufsehen erregt hatte, zerfallen. Die Lehre der Eurasier schien ein skurriles und endgültig abgeschlossenes Kapitel der Ideengeschichte des russischen Exils zu sein. Fünfzig Jahre später erlebten aber die scheinbar endgültig in der Versenkung verschwundenen eurasischen Ideen eine völlig unerwartete Renaissance. Bereits in der Endphase der Gorbatschow'schen Perestroika, als die Erosion der kommunistischen Ideologie immer offensichtlicher wurde, begaben sich viele Verfechter der imperialen russischen Idee auf die Suche nach einer neuen einigenden Klammer für alle Völker und Religionsgemeinschaften des Sowjetreiches und entdeckten dabei den eurasischen Gedanken. Mit dem Aufstieg und Fall und der Renaissance des Eurasiertums beschäftigt sich die vorliegende Studie.

Das Buch Wiederkehrs gehört zu den wenigen Monografien, die sich ausführlich sowohl mit dem "klassischen" Eurasiertum der Zwischenkriegszeit als auch mit den neoeurasischen Strömungen des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts befassen. Dies gibt dem Autor die Möglichkeit, die beiden Konstellationen, in denen der eurasische Gedanke zum Durchbruch gelangte, miteinander zu vergleichen. In beiden Fällen betrat das Eurasiertum infolge einer außerordentlichen Erschütterung des russischen Selbstverständnisses die politische Bühne; es sollte das ideologische Vakuum ausfüllen, das nach der Erosion der Staatsdoktrinen entstanden war, die bis dahin das jeweilige russische Imperium legitimiert hatten - zunächst der zaristischen Idee und dann der Ideologie des proletarischen Internationalismus. Die Eurasier versuchten die Desintegrationsprozesse, die den Zusammenhalt des russischen Reiches gefährdeten, mithilfe eines neuen ideologischen Konstrukts einzudämmen. Für sie stellten die Völker des eurasischen Subkontinents (ein Synonym für das russische Reich) trotz all ihrer kulturellen, religiösen und sprachlichen Unterschiede eine Schicksalsgemeinschaft dar, die um jeden Preis bewahrt werden musste. Mit Recht hebt Wiederkehr hervor, dass die "eurasische Theorie [...] als solche wesentlich eine Reaktion auf das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker darstellte, die der amerikanische Präsident Wilson während des Ersten Weltkrieges verkündet hatte. Sie verfolgte den Zweck, die Weiterexistenz eines imperialen Staates auf dem Territorium des ehemaligen Russländischen Reiches zu legitimieren, obwohl zur selben Zeit das Vielvölkerreich der Osmanen sowie die Habsburgermonarchie zerfielen." (112)

Und wie bewerteten die Eurasier den Bolschewismus, dem es gelang, das 1917/18 zusammengebrochene russische Reich mit Hilfe des "roten Terrors" und der Ideologie des proletarischen Internationalismus wiederherzustellen? Dieser Frage widmet Wiederkehr viel Aufmerksamkeit. So weist er daraufhin, dass die prägenden Gestalten der Bewegung, vor allem Fürst Nikolaj Trubeckoj, anders als die Verfechter der "nationalbolschewistischen" "Smena-Vech"-Bewegung nicht bereit waren, aus Dankbarkeit für die Errettung des Imperiums vor dem Bolschewismus zu kapitulieren: "Im Unterschied zu den Eurasiern waren die Smenovechovcy [Mitglieder der Smena-Vech-Bewegung; L.L.] bereit, den 'Gang nach Canossa' anzutreten und eine ideologische Begründung für die Zusammenarbeit der nichtbolschewistischen Intelligencija mit der Sowjetmacht zu liefern." (55)

Anders als die Smenovechovcy betrachteten sich die Eurasier nicht als Verbündete, sondern als Konkurrenten der Bolschewiki. Zwar hielten sie den Bolschewiki zugute, dass diese, anders als die westlichen Demokratien, der Ideologie eine große Bedeutung beimaßen. Denn das von den Eurasiern angestrebte politische System sollte von einer herrschenden Ideologie gänzlich durchdrungen sein (sie nannten es "Ideokratie"). Allerdings hielten die Eurasier die bolschewistische Ideokratie für einen Fremdkörper im eurasischen Raum: "Der Materialismus und Atheismus der Bolschewiki seien westeuropäischen Ursprungs." (144) Die von den Eurasiern konzipierte Ideokratie sollte hingegen auf dem orthodoxen Christentum basieren. Mit Recht hebt der Autor hervor, dass dieses eindeutige religiöse Bekenntnis der Eurasier im Widerspruch zu ihrer Idee von der eurasischen Völkergemeinschaft stand, die sich aus orthodoxen Christen, Moslems und Buddhisten zusammensetzen sollte. Um aus diesem Dilemma herauszukommen, sprachen die Eurasier von einer angeblich unbewussten Neigung der Moslems und der Buddhisten zum orthodoxen Christentum. [1]

Ein anderer Widerspruch, der in den programmatischen Vorstellungen vieler Eurasier enthalten war, bestand darin, dass sie die führende Rolle der Russen in der eurasischen Völkergemeinschaft als selbstverständlich voraussetzten. Nicht zuletzt deshalb, so Wiederkehr, waren "die Inhalte des eurasischen Identitätsentwurfs [...] für die nicht-russischen Nationalitäten des ehemaligen Russländischen Reiches nicht glaubwürdig, weil sie zu offensichtlich auf den Erhalt des imperialen Staates zielten und sich dem Verdacht nicht entziehen konnten, einzig zu diesem Zweck ausgedacht worden zu sein." (169f.) Wiederkehr unterschätzt allerdings die Tatsache, dass Nikolaj Trubeckoj sich über diesen Widerspruch durchaus im Klaren war. 1927 schrieb er, dass aufgrund des wachsenden Nationalbewusstseins der nicht russischen Völker die Monopolstellung der Russen im russischen Reich unhaltbar geworden sei und kritisierte die russischen Chauvinisten. Durch ihren Mangel an Kompromissbereitschaft gegenüber den anderen Völkern Russlands setzten sie den territorialen Bestand des Reiches aufs Spiel. Ihr anachronistisches Festhalten an bereits verlorenen Positionen könne dazu führen, dass das russische Reich auf seinen großrussischen Kern reduziert werde. Die Zeit der Alleinherrschaft der Russen in Russland sei endgültig vorbei. [2] Dennoch betrachtete die Mehrheit der Eurasier das eurasische Programm weiterhin als ein im Wesentlichen russisches Imperialprojekt. Dadurch büßte es, wie Wiederkehr mit Recht sagt, seine Attraktivität bei den Vertretern der nicht russischen Völker des ehemaligen russischen Reiches ein, was letztendlich zum Scheitern des Eurasiertums in der Zwischenkriegszeit beitrug.

Ein anderer, nicht weniger gewichtiger Grund für den Niedergang des "klassischen" Eurasiertums, mit dem sich Wiederkehr detailliert befasst, bestand in der Linkswendung großer Teile der ursprünglich antibolschewistischen Bewegung. So erlagen viele Eurasier der Versuchung, die sie zunächst an der "Smena-Vech"-Bewegung kritisiert hatten; sie neigten zu einer immer engeren Kooperation mit dem sowjetischen Regime. Gefördert wurde diese Tendenz durch einige eingeschleuste sowjetische Agenten und durch die berüchtigte Tarnorganisation des sowjetischen Geheimdienstes Trest. 1928/29 fand die Spaltung der Bewegung statt. Zwei ihrer Gründer - Trubeckoj und Petr Savickij - distanzierten sich vom probolschewistischen Flügel des Eurasiertums, der sich um die in Paris erscheinende Zeitschrift "Evrazija" gruppierte. Etwas irreführend ist allerdings die Aussage Wiederkehrs: "Trubeckoj und andere distanzierten sich im Zusammenhang mit der Spaltung von 1929 öffentlich von Eurasismus." (43) In Wirklichkeit blieb Trubeckoj, trotz all seiner Zweifel, praktisch bis zu seinem Tod (1938), den eurasischen Ideen treu. So veröffentlichte er 1935 und 1937 im 11. und 12. Heft der "Evrazijskaja chronika" zwei Abhandlungen, in denen er eindeutig eurasische Positionen vertrat. [3] Nach der Spaltung von 1928/29 verlor die eurasische Bewegung ihren bisherigen Schwung und trat in der zweiten Hälfte der 30er Jahre von der politischen Bühne ab.

Nicht anders erging es übrigens einer anderen Bewegung, die den Eurasiern in vieler Hinsicht ähnelte - der deutschen "Konservativen Revolution", die so wie die Eurasier ihre Blütezeit in den 20er Jahren erlebte und die nach der Errichtung des NS-Regimes ihre Bedeutung gänzlich einbüßte. Auf die Parallelen zwischen den Eurasiern und der "Konservativen Revolution" geht Wiederkehr ausführlich ein: "Die Zivilisationskritik und der Antiparlamentarismus beider Strömungen beruhte auf einer organizistischen Gesellschaftsauffassung. Die Ablehnung der Aufklärung als 'westlich' und das Denken in geopolitischen Kategorien war ihnen ebenfalls gemeinsam. Vor allem verbindet sie die Idee der revolutionären Durchsetzung konservativer Ziele, die Denkfigur einer Revolution zur Wiederanknüpfung an die Tradition." (147) Die den Eurasiern eigene Ablehnung der "offenen Gesellschaft" und des liberalen Denkmodells stellte also kein typisch russisches Phänomen dar, sondern war Bestandteil der länderübergreifenden Auflehnung gegen die Moderne, die damals viele europäische Länder erfasste.

Im zweiten Teil seiner Monografie geht der Autor auf die Renaissance des Eurasiertums in der Periode der Dämmerung des Sowjetreiches und nach der Auflösung der Sowjetunion ein. Wodurch lässt sich diese völlig unerwartete Rückkehr des Eurasiertums erklären? Der Autor führt folgende Gründe hierfür an: "Erstens legitimierte [der eurasische Gedanke] den von vielen erwünschten Fortbestand eines einzigen Staates auf dem Territorium des alten Vielvölkerreiches, das zu zerfallen drohte und schließlich tatsächlich zerfiel. Zweitens stillte die eurasische Ideologie ein Bedürfnis, indem sie eine Alternative zum kollabierenden Wirtschafts- und Herrschaftssystem bereitstellte, die nicht in der bloßen Übernahme des westlichen Modells bestand, ja sie rechtfertigte die Überwindung der bolschewistischen Herrschaft ohne Verwestlichung Russlands." (227)

Zwar handelt es sich bei dem Neoeurasiertum in der ehemaligen UdSSR um ein facettenreiches und vielschichtiges Phänomen, dominiert wird allerdings der neoeurasische Diskurs durch Aleksandr Dugin, der für viele Beobachter den neoeurasischen Gedanken im heutigen Russland als solchen verkörpert. Dugins Programm wurde von der Forschung bereits ausführlich untersucht. Deshalb betritt Wiederkehr mit seiner Analyse kein Neuland. Die Stärke seiner Interpretation besteht aber darin, dass er die Vorstellungen Dugins unentwegt mit denjenigen der "klassischen" Eurasier vergleicht und grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Konzepten erarbeitet. So war den "klassischen" Eurasiern der Zwischenkriegszeit die für Dugin charakteristische Verherrlichung von Krieg und Gewalt fremd: "Denn im Gegensatz zu den Eurasiern der Zwischenkriegszeit, deren Ideologie eine isolationistische war, münden die Pamphlete Dugins regelmäßig in martialische Aufrufe zur Vernichtung der 'Atlantiker'." (238)

Auch die "von esoterisch-okkulten Motiven durchzogenen Verschwörungstheorien Dugins" waren den Eurasiern der Zwischenkriegszeit fremd. Mit anderen Worten: Dugins Programm stellt eine Variante des Rechtsextremismus dar, das Programm der klassischen Eurasier hingegen stand weder rechts noch links. Man kann es als eine Ideologie des "dritten Weges" bezeichnen. Abgesehen davon, so Wiederkehr, fehle den Neoeurasiern die theoretische Tiefe und Originalität ihrer Vorgänger: "Keiner von ihnen hat ein innovatives Modell zu bieten, das traditionelle Denkbarrieren aufbricht und einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn verspricht." (298) Durch dieses Lob auf die "klassischen" Eurasier gerät der Autor in einen gewissen Widerspruch zu seinem früheren Urteil, als er von den "vermeintlich wissenschaftlichen Arbeiten der Eurasier" (7) sprach.

Die Tatsache, dass viele Eurasier der Gründergeneration, trotz ihrer ideologischen Borniertheit, zu den brillantesten Wissenschaftlern ihrer Zeit zählten (N. Trubeckoj, P. Savickij, L. Karsavin, G. Vernadskij, N. Alekseev u.a.) kommt in der Studie Wiederkehrs zu wenig zur Geltung. Solche abstrusen gedanklichen Konstruktionen wie die rassistische "Chimären"-Theorie des Neoeurasiers Lev Gumilev oder die okkulte "Konspirologie" Dugins wären bei den Eurasiern der ersten Stunde undenkbar gewesen.

Dessen ungeachtet, und hier kann man Wiederkehr durchaus beipflichten, gelingt es den "militant antiwestlichen und gewaltbereiten Neoeurasiern um Dugin" (300), mit ihren pseudowissenschaftlichen Theorien wichtige Akzente im innerrussischen Diskurs zu setzen. Der Autor äußert am Ende der Studie allerdings die Hoffnung, dass "die Neuauflage des Eurasismus an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert das Schicksal des Originals teilen und keine politische Wirksamkeit entfalten wird." (300)

Die Monografie Wiederkehrs beeindruckt durch ihre Gründlichkeit und Originalität. Dies betrifft insbesondere den ersten Teil der Studie, in dem der Verfasser den zeithistorischen und ideologischen Kontext des "klassischen" Eurasismus untersucht. Jedem Leser, der sich über das Phänomen "Eurasiertum" detailliert und zuverlässig informieren will, kann man diese Studie als ein unentbehrliches Referenzwerk empfehlen.


Anmerkungen:

[1] Evrazijstvo. Opyt sistematičeskogo izloženija, Paris 1926, 20f.

[2] Nikolaj Trubeckoj: Obščeevrazijskij nacionalizm, in: Evrazijskaja chronika 9 (1927), 24-30.

[3] Nikolaj Trubeckoj: Ob idee pravitel'nice ideokratičeskogo gosudarstva, in: ders.: Istorija. Kul'tura. Jazyk, hg. von V.M. Živov, Moskau 1995, 438-442; ders.: Upadok tvorčestva, ebenda, 444-448.

Leonid Luks