Jürgen Helm / Renate Wilson (eds.): Medical Theory and Therapeutic Practice in the Eighteenth Century. A Transatlantic Perspective, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, 344 S., ISBN 978-3-515-08889-3, EUR 49,00
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Im 18. Jahrhundert glich die Medizin einem Flickenteppich. Neben dem iatromechanischen Gesundheits- und Krankheitskonzept Friedrich Hoffmanns (1660-1742) stand der Psychodynamismus seines Hallenser Fakultätskollegen Georg Ernst Stahl (1660-1734). Bekannt sind auch die Irritabilitätslehre Albrecht von Hallers (1708-1777), der Brownianismus John Browns (1735-1788), der Vitalismus Christoph Wilhelm Hufelands (1762-1836) oder der Mesmerismus Franz Anton Mesmers (1734-1815). Soweit es um die Ideen- und Wissenschaftsgeschichte geht, lässt sich dieses Spektrum anhand jeder beliebigen medizinhistorischen Gesamtdarstellung nachvollziehen.
Ein weißer Fleck in der Forschung ist demgegenüber die medizinische Praxis im 18. Jahrhundert geblieben. Der eigentlich längst überkommenen Humoralpathologie ist in dieser Zeit nämlich ein zähes Nachleben beschert gewesen, und sie ging mit den neuen Medizinkonzepten mannigfaltige, aus heutiger Sicht mitunter abstrus anmutende Allianzen ein. Es ist der Verdienst des Sammelbandes von Jürgen Helm und der leider viel zu früh verstorbenen Renate Wilson, das Verhältnis von medizinischer Theorie und therapeutischer Praxis im 18. Jahrhundert auszuloten. Er leistet einen Beitrag zu der bis heute kaum erforschten Geschichte der ärztlichen Therapie, zu der außer den kurzen Überblicksdarstellungen von Erwin Ackerknecht (1970) und Huldrych Koelbing (1985) sowie der Arbeit von John Harley Warner (1986) zum 19. Jahrhundert wenig vorliegt. [1]
"Medical Theory and Therapeutic Practice" geht von der plausiblen Annahme aus, dass zwischen den unterschiedlichen medizinischen Schulen im 18. Jahrhundert in der Praxis weniger Zwietracht herrschte als dies aus heutiger Sicht vielleicht zu vermuten wäre. Neben der Theorie bestimmten nämlich noch vielfältige andere, d.h. soziale, kulturelle oder religiöse Faktoren die Therapiewahl. Insbesondere idiographische Wissensbestände, die Erwartungen der Patienten, Vorlieben bestimmter Patientengruppen sowie ökonomische Fragen sind dabei relevant gewesen, argumentieren Helm und Wilson: "In most settings theoretical considerations were only one of the factors determining medical treatments and procedures. Specific therapeutic choices were guided by transmitted, local and individual stores of pratical knowledge, by expectations of patients, and by economic considerations. Also of interest are implicit or explicit preferences for particular therapies in defined social and religious settings and networks." (7).
Die einzelnen Beiträge des Bandes, der aus seiner Tagung der Franckeschen Stiftung in Halle/Saale (2005) hervorgegangen ist, sind jeweils auf ein bestimmtes Setting hin ausgerichtet. Als besonders ergiebig erweist sich dabei die transatlantische Perspektive des Bandes, durch die das Augenmerk immer wieder auf die Beziehungen zwischen der Medizin im deutschen und anglo-amerikanischen Raum gerichtet wird. Fünf Beiträge des Bandes sind deshalb auf Deutsch und neun auf Englisch verfasst, weshalb der Band mit prägnanten Zusammenfassungen aller Beiträge in beiden Sprachen endet. Auch rundet ihn ein Namensregister ab, wodurch sich die zahlreichen Querverbindungen, die zwischen den Beiträgen bestehen, systematisch erschließen lassen.
Der Sammelband ist in fünf Abschnitte untergliedert. Die vier Aufsätze zu "Theory and Therapy" machen deutlich, dass medizinische Theorie und therapeutische Praxis im 18. Jahrhundert in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander standen. Jole Shackelford weist nach, wie George de Benneville (1703-1793), der 1730 als Arzt nach Pennsylvania auswanderte, in seinem Arzneibuch auf paracelsistisch-chemiatrisches Gedankengut aus dem späten 16. und frühen 17. Jahrhundert rekurrierte. Anhand der Korrespondenz des Chirurgen Lorenz Heister (1683-1758) demonstriert Marion Maria Ruisinger, dass es die Nachfrage der Patienten war, die zu der erstaunlichen Persistenz des Aderlasses im 18. Jahrhundert führte. Mit William Harveys (1578-1657) Entdeckung des Blutkreislaufs wurde der Aderlass nämlich keinesfalls hinfällig, wie man aus heutiger Sicht annehmen könnte. Heister trat vielmehr für eine iatromechanisch rekonzeptualisierte Venesektion ein. Dass Therapie bereits im frühen 18. Jahrhundert auf empirischer Arzneimittelforschung beruhte, zeigt dann Andreas-Holger Maehle für Opium, Chinarinde und Lithontriptika (Mittel gegen Harnsteine). Demgegenüber sind die diätetischen Empfehlungen von den neuen medizinischen Konzepten im 18. Jahrhundert weitgehend unbeeinflusst geblieben, erklärt Karin Stukenbrock.
Der zweite Abschnitt von "Medical Theory and Therapeutic Practice" firmiert unter dem etwas kryptischen Titel "Therapeutic Uncertainties". Beide Beiträge bringen die Interaktion von Ärzten und Patienten als Faktor der Therapiewahl ins Spiel. Michael Stolberg greift dabei, wie Ruisinger, die Patientenperspektive auf. Überzeugend kann er darlegen, wie eine patientendominierte Medizin im 18. Jahrhundert den therapeutischen Pluralismus fördern konnte, obwohl die meisten Patienten damals wohl kein Bewusstsein für die unterschiedlichen Schulen hatten. Aber sie bewerteten ihre Doktoren nach dem Ansehen, was wiederum deren therapeutischer Differenzierung Vorschub leistete. Jürgen Helm wechselt dann wieder die Perspektive, wenn er die Strategien der Hallenser Ärzte untersucht, um die Medikamente der lokalen Waisenhausapotheke zu verkaufen. Die Ärzte verfolgten eine zweigleisige Strategie. In der therapeutischen Praxis stützten sie sich auf allgemeinste humoralpathologisch-diätetische Überlegungen, während sie in ihren Veröffentlichungen die Theorien Georg Ernst Stahls rege bemühten: "Für das Verhältnis von medizinischer Theorie und therapeutischer Praxis bedeutet dies, dass die Theorie auf eine bestehende und unverändert beibehaltene medizinische Praxis übertragen und zu deren Legitimation herangezogen wurde" (121), folgert Helm. Damit geht es in den Beiträgen von Stolberg und Helm aber um die Herstellung von Sicherheit in kontingenten Situationen, weniger um Unsicherheiten.
"Materia Medica and Their Uses", der dritte Abschnitt des Bandes, vereinigt vier Aufsätze zur medizinischen Praxis. Robert Jütte demonstriert, dass menschliche Gewebe wie Haut, Fett oder Knochen im 18. Jahrhundert immer noch als Bestandteile einer "rationalen" Medizin aufgefasst worden sind. Die folgenden drei Beiträge bieten Detailstudien zur Praxis einzelner Ärzte: Almut Lanz zeigt, dass der Iatromechaniker Friedrich Hoffmann seine Theorie tatsächlich in die Praxis umsetzte. Dagegen mischte Abraham Wagner (1715-1763), ein nach Pennsylvania emigrierter schlesischer Schwenkfelder Arzt, Theorien der Zeit recht eklektisch, so John Crellin. Renate Wilson arbeitet daraufhin die multinationalen Bezüge der medizinischen Praxis im kolonialen Nord-Amerika heraus, die durch Interaktionen von englischen, deutschen und niederländischen Ärzten entstanden sind.
Wagner und de Benneville tauchen erneut im vierten Abschnitt "Religion and Society in Eighteenth Century Medicine" auf, wenn L. Allen Viehmeyer in einem eher deskriptiven Aufsatz Leben und Werk der beiden Ärzte beschreibt und diese im protestantisch-sektiererischen Milieu verortet. Elisabeth Quast erläutert das Engagement adliger Frauen für die 'Hallesche Medikamenten-Expedition'. Sie erklärt dieses u. a. mit deren religiös-pietistischer Motivation. In einem anspruchsvollen Aufsatz behandelt Fritz Krafft schließlich die Theologia medicinalis im Protestantismus, indem er die Jesus-Sirach-Exegese sowie das Bild des Christus als Apotheker durch die Zeit verfolgt.
Mary Lindemann rundet den Sammelband überzeugend ab. Unter dem Motto "Conclusions and Observations" fasst sie die einzelnen Beiträge zusammen. Dabei erörtert und nutzt sie das in der Geschichtswissenschaft vielbeschworene, aber kaum reflektierte Konzept der "Kontexte". Sie zeigt, wie unterschiedliche Kontexte das Verhältnis von medizinischer Theorie und Praxis im 18. Jahrhundert moderieren konnten.
Mit der Frage nach "Medical Theory and Therapeutic Practice" schließt der Sammelband eine Forschungslücke in der Sozialgeschichte der Medizin. Es handelt sich um innovative Wissenschaftsgeschichte, die die Umsetzung der Theorien bis in die Praxis verfolgt. Gut ist außerdem, dass dabei ein komplexes und vielschichtiges Bild der Medizin im 18. Jahrhundert gezeichnet wird. Auch wird die Patientennachfrage in dem Band als Faktor wirklich ernst genommen. Als kleiner Wermutstropfen bleibt anzumerken, dass sich einige der Beiträge (zu de Benneville und Wagner) überschneiden. Ein breiteres Spektrum an Praxen wäre deshalb wünschenswert gewesen, zumal diese gerade für das 18. Jahrhundert zugänglich sind. [2]
Anmerkungen:
[1] Erwin Ackerknecht: Therapie von den Primitiven bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart 1970; Huldrych Koelbing: Die ärztliche Therapie. Grundzüge einer Geschichte, Darmstadt 1985; John Harley Warner: The Therapeutic Perspective. Medical Practice, Knowledge, and Identity in America, 1820-1885, Cambridge, MA / London 1986.
[2] Vgl. Elisabeth Dietrich-Daum / Martin Dinges / Robert Jütte / Christine Roilo (Hgg.): Arztpraxen im Vergleich: 18.-20. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Tiroler Landesarchivs; 26), Innsbruck / Wien / Bozen 2008.
Susanne Hoffmann