Wolfram Drews: Die Karolinger und die Abbasiden von Bagdad. Legitimationsstrategien frühmittelalterlicher Herrscherdynastien im transkulturellen Vergleich (= Europa im Mittelalter; Bd. 12), Berlin: Akademie Verlag 2009, 502 S., ISBN 978-3-05-004560-3, EUR 59,80
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Fast gleichzeitig haben Mitte des 8. Jahrhunderts im Frankenreich und im arabischen Kalifat die Herrscherdynastien gewechselt, im Westen von den Merowingern zu den Karolingern, im Orient von den Umayyaden zu den Abbasiden. Den gewöhnlichen Mediävistinnen und Mediävisten (zu denen auch der Rezensent gehört) ist im besten Fall diese Tatsache an sich bekannt, doch während der fränkische Herrschaftswechsel gerade in den letzten Jahren vielfach behandelt und unter verschiedenen Aspekten intensiv diskutiert worden ist, scheitert eine nähere Auseinandersetzung mit dem arabischen Parallelvorgang in aller Regel schon an mangelnden Sprachkenntnissen.
Der Autor der vorliegenden, grundgelehrten Kölner Habilitationsschrift gehört zu den wenigen, die diese Hürde übersprungen haben, und kann deshalb einen komparativen Zugriff auf beide Phänomene wagen. Dabei geht es ihm weniger um die politischen Ereignisse selbst als um die Frage, wie der Machtwechsel beziehungsweise überhaupt die Herrschaft der neuen Dynastie jeweils gerechtfertigt wurde. Von vornherein ist zu erwarten, dass die Könige im Westen und die Kalifen im Osten dabei ganz unterschiedliche Strategien verfolgten; hier geht es aber nicht allein um diese Feststellung als solche, sondern auch um Erklärungen dafür.
Verglichen werden die verschiedensten Manifestationsweisen karolingischer und abbasidischer Herrschaft, wobei der titelgebende Begriff "Legitimationstrategie" äußerst weit gefasst ist. Nach den Vorgängen und Ideen im Umfeld der Usurpation selbst wird eingehend das Verhältnis der Herrscher zu den geistlichen und weltlichen Eliten betrachtet, die Funktion der Regenten bei der Findung und Durchsetzung von Normen (besonders auch religiöser) analysiert und schließlich die unterschiedlichen politischen Leitvorstellungen in West und Ost herausgearbeitet. Mit diesen Stichworten sind lediglich die Hauptpunkte der Untersuchung benannt; in Wirklichkeit sind unter diesen Rubriken wesentlich komplexere und vielfältigere Problemstellungen abgehandelt, die aufzuzählen den Rahmen dieser Rezension sprengen würde. Erwähnt sei allein das Hauptergebnis des Vergleichs: Trotz der Gleichzeitigkeit gibt es fast keine Gemeinsamkeiten im Herrschaftsverständnis der beiden Dynastien, zu unterschiedlich waren die Voraussetzungen. Die Karolinger konnten an jahrhundertealte Traditionen im staatlichen und kirchlichen Bereich anknüpfen, und nicht nur im Papsttum stand ihnen eine fest etablierte und allgemein anerkannte Institution als Legitimationsquelle zu Gebote. Der Islam und das Kalifat waren dagegen wesentlich jünger und noch in Entwicklung begriffen, was religiöse Richtungsstreitigkeiten und Schwierigkeiten bei der Integration der vielen neueroberten Gebiete einschloss. Außerdem war die Machtübernahme der Abbasiden in viel revolutionärer Weise erfolgt als der allmähliche Aufstieg der Karolinger, der 751 lediglich seinen formellen Abschluss fand. Auch wenn die Abbasiden als Herrscherdynastie bis zum 13. Jahrhundert und somit wesentlich länger "durchgehalten" haben als die Karolinger, war ihre Verankerung in der Gesellschaft letztlich viel geringer als bei ihren abendländischen Kollegen. In Ermangelung staatstragender Institutionen, wie sie im Westen bestanden, waren sie viel stärker auf sich selbst zurückgeworfen - deshalb auch die nachdrückliche Betonung ihrer Verwandtschaft mit dem Propheten Mohammed als wichtigste Begründung ihres Herrschaftsanspruchs.
Man sollte freilich den Titel des Buchs nicht allzu wörtlich nehmen, denn es werden darin keineswegs alle Karolinger bis zum 10. Jahrhundert, geschweige denn alle Abbasiden bis 1258 behandelt, vielmehr ist die Untersuchung im Westen auf die Zeit bis 814, im Osten auf die Jahre bis 833 beschränkt. Außerdem wird selbst der Autor kaum behaupten wollen, alle hier dargestellten Regierungsmaßnahmen hätten auch Jahrzehnte später noch in erster Linie der nachträglichen Legitimation des Machtwechsels gedient. So hätte das Buch eher den Titel "Herrschaftsethos und Herrschaftspraxis Karls des Großen und der ersten Abbasiden" verdient. Vielleicht hätte man auch etwas andere Schwerpunkte setzen können. So erscheint dem Rezensenten zum Beispiel die Rolle der Salbung bei der Königserhebung, die ja zunächst gar nicht traditionsbildend gewirkt hat, überbewertet, dafür hätte er sich zu den Karolingergenealogien mit ihrer (fiktiven) Ansippung der Dynastie an die Merowinger mehr als eine beiläufige Bemerkung gewünscht. Doch betreffen alle diese Einwände nur Nebensächlichkeiten oder Geschmacksfragen. Vielmehr ist man gerne bereit, dem Verfasser in allen seinen Ausführungen zu folgen, sowohl was die Gesamtaussage als auch was die Einzelheiten betrifft. Gerade als Durchschnitts-Historiker ohne einschlägige Vorbildung kann man außerdem über die Verhältnisse im Kalifat viel lernen.
Wenn man bei der Lektüre fast nirgends das Bedürfnis nach Widerspruch verspürt, dann liegt das freilich nicht zuletzt daran, dass die Darlegungen des Autors - jedenfalls im Hinblick auf die Karolinger - eigentlich nur den allgemeinen wissenschaftlichen Mainstream wiedergeben, weshalb übrigens auch die Nachweise in den Anmerkungen einer gewissen Beliebigkeit unterliegen. Nur sehr selten grenzt der Verfasser seine Aussagen von anderen Meinungen ab und referiert stattdessen lieber etablierte Forschungspositionen. Überraschungen bei der Bewertung der Vorgänge des 8. Jahrhunderts erlebt man hier folglich nicht. Insofern weicht die vorliegende Arbeit vom Usus akademischer Qualifikationsschriften ab und hat eher den Charakter eines besonders ausführlichen Essays. Man könnte sich sogar fragen, ob mit der Parallelisierung von Erscheinungen im Karolinger- und im Abbasidenreich überhaupt ein Erkenntnisfortschritt erzielt ist, wenn für die einzelnen Teilbereiche letztlich nur Bekanntes zusammengefasst wird. Das ist jedoch ein Problem, das über diese Rezension und das rezensierte Buch hinaus in eine grundsätzliche Methodendiskussion der historischen Komparatistik verweist, und mag deshalb von anderen beurteilt werden.
Roman Deutinger