Mathieu L. L. Segers: Deutschlands Ringen mit der Relance. Die Europapolitik der BRD während der Beratungen und Verhandlungen über die Römischen Verträge (= Europäische Hochschulschriften. Reihe XXXI: Politikwissenschaft; Bd. 551), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2008, 343 S., ISBN 978-3-631-57105-7, EUR 56,50
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Auf dem Weg zur europäischen Einigung waren einige Etappen besonders bedeutend und trugen entscheidend dazu bei, die Integration voranzutreiben. Dazu gehört auch die "Relance européenne" von 1954/1956, der es zu verdanken ist, dass nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) die Römischen Verträge unterzeichnet werden konnten.
Ausgangspunkt der 2005 in niederländischer Sprache veröffentlichten und 2008 ins Deutsche übersetzten Dissertation von Matthieu Segers ist die Debatte über die Bedeutung der Suezkrise (November 1956) für die Zustimmung Frankreichs zum Gemeinsamen Markt. Zeigte dies echten Willen zur europäischen Einigung oder spielten eher geopolitische Überlegungen eine Rolle? Segers weist darauf hin, diese Frage sei der "Zankapfel schlechthin zwischen den sogenannten Traditionalisten und den Revisionisten in Bezug auf die Erklärung des Zustandekommens der Römischen Verträge." (14) Grundlage sowohl für die traditionelle als auch für die revisionistische Interpretation ist ein Brief von Guy Mollet an Konrad Adenauer vom 31. Oktober 1956. Traditionalisten wie Hans Küsters oder Pierre Guillen interpretieren ihn als Aussage dafür, dass Frankreichs Unterstützung des Gemeinsamen Marktes maßgeblich von der Suezkrise geprägt war. Revisionisten wie Alan Milward oder Gerard Bossuat argumentieren hingegen, es gebe keine Hinweise darauf, dass Mollet sich von der Suezkrise habe beeinflussen lassen. Er habe vielmehr schon vorher die Entscheidung getroffen, die europäische Integration voranzutreiben.
Diese Diskussion nutzt Segers dazu, die deutsche Seite des Geschehens näher zu betrachten (18) und nach der Bedeutung des deutschen Einflusses auf Frankreich bei der Zustimmung zum Gemeinsamen Markt zu fragen. Mit dem Argument, dass die Willensbildung und Entscheidungsfindung in der Bundesrepublik Deutschland bei den Verhandlungen über die Römischen Verträge nur begrenzt untersucht worden seien (19), widmet sich Segers intensiv der Analyse der westdeutschen Überlegungen zwischen November 1956 und März 1957. Ziel der Studie ist, die "Lücke in der bestehenden Literatur über die Geschichte der westeuropäischen Zusammenarbeit zu schließen." (21)
Dazu geht er chronologisch vor und gliedert seine Studie in kurze Zeiträume; von Juni 1954 bis März 1957 rekapituliert Segers die deutsche Diskussion in Ein- bis Viermonatsschritten. Zuerst analysiert er die Überlegungen bis zur Konferenz von Messina im Juni 1955, die den Weg für die Berichterstellung der sechs EGKS-Mitglieder im Spaak-Komitee ebnete. Ab Mitte 1956 widmet er sich den Regierungsdebatten. Der Ertrag seines Quellen- und Literaturstudiums hält sich freilich in Grenzen; zumeist handelt es sich um ergänzende Details, die das bisher Bekannte nicht infrage stellen.
Segers erläutert sehr präzise, wie die Bundesregierung immer wieder innere Auseinandersetzungen über die Europapolitik zu bestehen hatte. Zwar wurde der Grundsatz der Westbindung von der ganzen Bundesregierung getragen, doch wurde er von den Ministerien und Führungskräften unterschiedlich ausgelegt. Während die Gruppe um Walter Hallstein nach einer europäischen Föderation strebte, befürwortete Ludwig Erhard eine Freihandelszone; der funktionalistischer ausgerichtete Franz Etzel nahm eine Zwischenposition ein.
Interessant ist, wie man in Westdeutschland mit der Frage rang, wie die Beziehungen zu Frankreich zu gestalten seien. In Bonn gab es eine Kontroverse darüber, ob Deutschland als Beweis für seine Politik der Annäherung und Integration bereit sein müsse, die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Probleme Frankreichs auf seine Schultern zu nehmen. Hier kann Segers zeigen, wie diese Auseinandersetzung im Vorfeld der Verhandlungen aufgrund einer direkten Verständigung zwischen Adenauer und Pinay an Bedeutung verlor. Informativ ist auch der Hinweis, dass Adenauers Interesse an der Weiterführung der supranationalen Integration lange Zeit relativ schwach war, weil er der Lösung der Saarfrage und der Qualität der deutsch-französischen Zusammenarbeit Priorität einräumte (315). Erst im Herbst 1955 nahm Adenauer eine deutliche proeuropäische Position ein und reagierte damit auf das überraschende Resultat des Saar-Referendums, das Fehlschlagen der zweiten Genfer Konferenz und die amerikanische Unterstützung von Euratom. Allerdings hatte diese Entscheidung keine konkreten Folgen, da die Regierung Edgar Faures, der auch Pinay angehörte, in Frankreich stürzte, die Beratungen zum Stillstand kamen und die neue Regierung unter dem "Europäer" Guy Mollet die Initiative der Verhandlungen über den Gemeinsamen Markt und Euratom an sich riss.
Weiterführende Ergebnisse erbringt die Untersuchung der Frage, wie die "nationale Positionsbestimmung" der Bundesrepublik vom westdeutschen Vizevorsitzenden der Hohen Behörde der EGKS, Franz Etzel, und seinen Mitarbeitern in Luxemburg beeinflusst wurde. Adenauer akzeptierte nach längeren Überlegungen Etzels Vorschlag, die Gegner weiterer Konzessionen Westdeutschlands an Frankreich außer Gefecht zu setzen, weil er hoffte, Atomwaffen für die Bundesrepublik zu erwerben. Die Suezkrise - und hier schließt sich der Kreis - bedeutete dabei für Adenauer lediglich den dramatischen Hintergrund, der seinem Streben nach der westdeutschen Wiederbewaffnung zusätzliche Dringlichkeit verlieh (318). Allerdings misst Segers den Entscheidungen des launischen Adenauer zuviel Bedeutung zu. Denn der alternde Kanzler war stets geneigt, widersprüchliche Interessen für seine Zwecke zu nutzen.
Segers' Fragestellung und sein umfangreiches Quellenstudium ergeben eine Monografie, die sich des Verdiensts rühmen kann, einige neue Facetten zur Geschichte der europäischen Integration beigesteuert zu haben. Es hätte hilfreich sein können, dem Leser einen weniger deskriptiven und etwas analytischeren Zugang zu verschaffen. Auch wäre es sinnvoll gewesen, kürzere Quellentexte zu zitieren und sich für eine Sprache zu entscheiden, in der zitiert wird. Dies wäre umso nötiger gewesen, als die Übersetzung vom Niederländischen ins Deutsche leider nicht gelungen ist. Viele Begriffe und Redewendungen wurden nicht korrekt verwendet und erschweren die Lektüre - ein Problem, das durch die unpassende Einbettung der zahlreichen, nicht selten fehlerhaften, englischen und französischen Zitate noch verstärkt wird.
Veronika Heyde