Rezension über:

Friedrich Wilhelm Graf: Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne, München: C.H.Beck 2009, 208 S., 31 Farbabb., ISBN 978-3-406-58478-7, EUR 18,90
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Rezension von:
Martin Friedrich
Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Martin Friedrich: Rezension von: Friedrich Wilhelm Graf: Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne, München: C.H.Beck 2009, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/09/15452.html


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Friedrich Wilhelm Graf: Missbrauchte Götter

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Friedrich Wilhelm Graf, der streitbare Professor für Evangelische Theologie aus München, erfreut sich (u.a. als Leibniz-Preisträger) in der allgemeinen Wissenschaftslandschaft einer deutlich größeren Beliebtheit als in der eigenen Zunft oder gar bei der Evangelischen Kirche in Deutschland. Und das wird sich auch durch die jüngste Veröffentlichung nicht ändern. Zwar wirft er dieses Mal auch einer ansehnlichen Schule der deutschen Staats- und Verfassungsrechtler den Fehdehandschuh hin, die mit ihrer Rede vom Menschenbild des Grundgesetzes "viel Würdelitanei" (183) geschaffen hätten. Doch noch stärker geht es gegen die beiden großen Kirchen in Deutschland, die sich des Begriffs der Menschenwürde bemächtigen und damit als "Diskurspolizisten mit exklusiver Deutungskompetenz" (194) aufspielen wollten. Dabei könne man es von der römisch-katholischen Kirche mit der u.a. von Nell-Breuning verkörperten "sozialtheoretische[n] Arroganz" (148) eigentlich nicht anders erwarten. Viel mehr bringt es Graf auf die Palme, dass Spitzenvertreter seiner eigenen Kirche beim Bestreben, mit der Schwesterkirche gemeinsam Begriffe zu besetzen, eine "Preisgabe protestantischer Prinzipien" (190) vollzögen oder "einen erheblichen Mangel an theologischer Bildung" erkennen ließen (92).

Deutlich ist: Erst mit den beiden letzten Kapiteln seines Essays erreicht Graf sein Thema. Je länger, desto mehr gewinnt die situationsbezogene Debatte und die satirische Überzeichnung gegenüber den historischen Analysen die Oberhand. Dabei geht es Graf nicht so sehr, wie die Einleitung noch glauben machen könnte, um den globalen 'clash' der Kulturen, der spätestens seit 2001 in "Gottesbilderkämpfen" (13) ausgetragen wird. Auch hierzu macht er kluge Bemerkungen, die jedoch kaum über sein (wichtigeres) Buch "Die Wiederkehr der Götter" hinausgehen. Sein Herzblut fließt aber erst dort, wo es um die Auseinandersetzungen etwa um die Bioethik in Deutschland geht. Vor allem hier möchte er zwischen einem klerikalen "Wille[n] zur Macht" und einem "Trivialatheismus eines Richard Dawkins" (13) die "entschieden liberalen Denktraditionen" (16f.) des Protestantismus behaupten.

Erst von hinten gelesen erschließt sich also die Architektur des Buches. Wenn man die Menschenwürde beschwört, muss man mit einem Menschenbild operieren, am besten mit "dem" christlichen Menschenbild, das auch für die deutsche Rechtsordnung fundamental sei. Wenn man aber die sich bis zu einer "Menschenbildmanie" (156) steigernden "Menschenbild-Galerien" (148) seit den 1950er Jahren dekonstruieren will, muss man an zwei grundlegende biblische Aussagen erinnern: Die Schöpfung des Menschen als Ebenbild Gottes und das Verbot, sich ein Bildnis zu machen. Und um diese Theologumena angemessen anwenden zu können, muss man sich mit den vielen Gottesbildern der Moderne auseinandersetzen.

Die Leserschaft der "sehepunkte" wird es freuen, dass Graf in der "Sehepunkte" betitelten Einleitung das Problem anerkennt, dass partikulare Perspektivität niemals überwunden werden könne (15). Er löst das Problem auf doppelte Weise: Einmal indem er alle zentralen Begriffe des Diskurses, angefangen mit dem Wort "Gott" und seinen Komposita, radikal historisiert; dann aber auch, indem konsequent von der Tradition des reformatorischen Christentums her argumentiert. Am Ende des ersten Kapitels, einem Tour-de-Force-Ritt durch moderne Gottesvorstellungen, steht daher eine doppelte Schlussfolgerung: So sehr sich Gott, der "nur in den Herzen der Menschen überleben" kann (80), "effizient an bestimmte soziokulturelle Umwelten" anpasst, so wenig geht doch "der eine Gott [...] in den vielen Bildern [...] auf, die Menschen sich von ihm machen." (81)

Somit muss sowohl nach dem theologischen als auch nach dem historiografischen Ertrag des Buches gefragt werden. Für ersteren ist hervorzuheben, dass Graf nicht nur aus dem Neuprotestantismus heraus, sondern von dezidiert reformatorischen Prinzipien her argumentiert. Er geht aus von Luthers relationaler Bestimmung von Gott und Glaube, "in der er Grundeinsichten der modernen Religionskritik" vorweggenommen habe (20), und endet mit der Rechtfertigungslehre: "der Mensch [hat] seine Würde nicht aus sich selbst, sondern gewinnt sie [...] als 'fremde Würde', ihm von gnädigen Gott zugesprochen" (200), was ihn von "Selbstaufwertungszwängen" entlastet (201). Grafs Plädoyer an die Theologen, auch im ethischen Diskurs "elementare Distinktionen präsent [zu] halten" (201), ist unbedingt zu folgen. Ob aber die von ihm implizierten Positionierungen wirklich eine unausweichliche Konsequenz darstellen, bleibt eine offene Frage, denn eine echte Sachdiskussion leistet der Essay nicht.

Und dasselbe Gefühl des Unbefriedigtseins ist hinsichtlich der historischen Darstellung zu konstatieren. Graf präsentiert eine Fülle an Beobachtungen und treffenden Analysen, die sich aber noch nicht zu einem klaren Bild vereinigen. Mehr als einmal beschreitet er mit seinen begriffsgeschichtlichen Analysen Neuland, aber gerade deshalb hätten sie lieber in monografischer als in essayistischer Form präsentiert werden sollen. Das gilt vor allem für die Darstellung der religionstheoretischen Leitkategorien seit der Frühen Neuzeit (30-36), die sich alle, selbst die Begriffe Monotheismus und Polytheismus, eher als Kampfbegriffe denn als geeignete Instrumentarien zur Analyse entpuppen. Auch die wechselvolle Entwicklung des Imago-Dei-Gedankens und die ganz unterschiedlichen Einstellungen zum Bilderverbot in verschiedenen jüdischen, christlichen und muslimischen Traditionen werden nur angerissen. Dass der Menschenbildbegriff erst durch den Nationalsozialismus durchgesetzt worden sei (136), wird ausführlicher belegt, sollte aber sicherlich auch noch einmal überprüft werden.

So bleibt als Fazit, dass Grafs Buch vergnüglich zu lesen ist, auch wenn man nicht alle Positionen teilen wird. Vor allem regt es zum Weiterdenken und zum Weiterforschen an - und das ist ja eigentlich das Beste, was ein Buch tun kann.

Martin Friedrich