Barbara Stollberg-Rillinger / Thomas Weller (Hgg.): Wertekonflikte - Deutungskonflikte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereich 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 19.-20. Mai 2005 (= Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496; Bd. 16), Münster: Rhema Verlag 2007, 332 + XXIV S., s/w-Abb., ISBN 978-3-930454-76-1, EUR 42,00
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Die Frage der Verbindlichkeit von Werten erfreut sich angesichts der vielfach konstatierten Erfahrung eines grundlegenden Wertewandels in der Gegenwart wachsender Beliebtheit in der öffentlichen Debatte. Der Münsteraner Sonderforschungsbereich "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme" greift daher mit dem von Barbara Stollberg-Rilinger und Thomas Weller herausgegebenen Sammelband "Wertekonflikte - Deutungskonflikte" ein gesellschaftlich relevantes Thema in historischer und interdisziplinärer Perspektive auf.
Wie auch andere kulturwissenschaftliche Termini ist die Bezeichnung "Werte" schwer zu definieren. Dies betrifft vor allem die Verwendung des Begriffs in den aktuellen Debatten, wie Barbara Stollberg-Rilinger in ihrer Einleitung betont. Werte sind dort vor allem durch ihre Instrumentalisierbarkeit für politische bzw. gesellschaftliche Legitimationsstrategien oder als soziales Distinktionsmittel gekennzeichnet; Wertedebatten sind nicht selten emotional stark aufgeladen. Dennoch, so die Autorin, sei es möglich, den Begriff für die analytischen Kulturwissenschaften mit Gewinn zu verwenden. Sie geht dabei vom philosophischen Verständnis von Werten als "stabile[n], kollektiv geteilte[n] Vorstellungen von dem, was [...] des Wünschens mit guten Gründen für Wert erachtet wird" (10) aus. Von Werten, die Zustände und Sachverhalte betreffen, werden Normen abgeleitet, die sich auf konkret erwartete Handlungen von Personen beziehen. Während demnach Normen als Anweisungen formulierbar sind, werden Werte eher durch symbolische Kommunikation vermittelt. Dabei entstehen, dem interaktionistisch-prozessualen Ansatz der neueren Kulturgeschichte folgend, eben gerade keine dauerhaft stabilen Wertesysteme, sondern kommunikativ erzeugte Wertungsvorgänge. Der gewünschten Stabilität von Werten und ihrer kollektiven Gültigkeit wird folglich in der kulturwissenschaftlichen Herangehensweise, für die der Münsteraner Sonderforschungsbereich steht, die Instabilität und Wertekonkurrenz in der sozialen Praxis gegenübergestellt.
Die Beiträge des Bandes fragen folglich nach kommunikativen Akten der Zuschreibung von Werten, nach Diskursen über Werte, nach ihrer Symbolisierung und nach Deutungskämpfen um bestimmte Wertvorstellungen. Werte stehen mitunter auch in Konkurrenz zueinander, was auf der Ebene der Normen dann zu schwer vereinbarenden Handlungserwartungen führt. Das gilt in vormodernen europäischen Gesellschaften beispielsweise dann, wenn der Demut und Bescheidenheit fordernde christlich-monastische Wertekanon mit dem damit kaum zu vereinbarenden adlig-kriegerischen Wertehorizont zusammenprallt.
Bevor Werte- und Deutungskonflikte in 14 Einzelbeiträgen behandelt werden, entwirft Jean-Claude Schmitt eine Begriffsgeschichte des Terminus "Wert". Er arbeitet eine in verschiedenen europäischen Sprachgruppen parallele Entwicklung seit dem Mittelalter heraus, die in drei Etappen verlief. "Wert" bezeichnete demnach zunächst geschätzte Eigenschaften einer Person oder einer Sache. Im 13. Jahrhundert ist eine Aufspaltung des Begriffs in zwei Bedeutungsebenen, eine ethisch-ideelle und eine materielle, auszumachen: Nun wird zwischen dem Wert einer Person im Sinne von Hochschätzung und dem messbaren Wert einer Sache oder eines Besitzes unterschieden. Erst im 19. Jahrhundert, im Übergang zur Moderne - und damit in der dritten Etappe - ist der Plural "Werte" nachweisbar. Hierin drückt sich das Bewusstsein verschiedener Wertesysteme und letztlich Werterelativismus aus. Das bedeutet nicht, dass es in der Vormoderne keine Wertekrisen und -konflikte gegeben habe, sondern lediglich, dass die Reflexionsmöglichkeiten über Wertekonflikte noch begrenzt waren. Ausgehend von der Grundannahme einer gottgegebenen und harmonischen Ordnung der Welt, war der Wertehorizont an und für sich nicht disponibel. Stattdessen wurden Wertekonflikte über das Gegenüberstellen von Werten bzw. Tugenden auf der einen und Unwerten bzw. Untugenden auf der anderen Seite ausgetragen. Dabei kam es allerdings vor, dass einander eigentlich ausschließende Tugenden konkurrierten oder Unwerte in bestimmten Kontexten dennoch positiv konnotiert waren. Dies gilt etwa für den ehrlich erworbenen und von Mildtätigkeit begleiteten Reichtum.
Die Einzelbeiträge füllen den thematisch-methodischen Rahmen in historischer, literaturwissenschaftlicher und kunsthistorischer Perspektive. In verschiedenen Aufsätzen zu mittelalterlichen Wertekonflikten wird die Spannung zwischen christlichen Werten und verschiedenen sozialen Normen, etwa der Ehre, dem Standes- und Rangbewusstsein und dem Kriegerideal, thematisiert (Gerd Althoff, Pamela Kalning, Gabriele Müller-Oberhäuser und Barbara Krug-Richter). Pamela Kalning etwa untersucht, wie Wertekollisionen in der didaktischen Literatur des Mittelalters behandelt werden. Sie betont, dass die geschilderten Lösungen von Wertekonflikten in Exempla nicht zur Nachahmung gedacht sind, sondern in eher kasuistischer Absicht auf Werteprobleme hinweisen, ohne Patentlösungen anbieten zu können. Barbara Krug-Richter analysiert den Wandel von Männlichkeitskonzepten am Beispiel von Freiburger Gerichtsfällen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts. Trotz des Vorliegens von Normenkonkurrenz (zwischen dem männlichen Gewalthabitus und rechtlichen wie religiösen Normen) konstatiert sie jedoch eine langfristige Verankerung der Vorstellungen von Männlichkeit und somit keinen grundlegenden Wertewandel auf diesem Feld.
Drei Beiträge (Martin Kintzinger, Thomas Weller und Markus Völkel) behandeln kulturelle Deutungskonflikte in den Außenbeziehungen. Dabei wird deutlich, dass die Diplomatie des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit auf gemeinsame Wertehorizonte zurückgreifen konnte, die entweder an das höfische Ideal des Adels oder die Res publica litteraria gebunden waren. Kulturelle Missverständnisse sind eher auf Nichtbeachtung der Regeln höfischen Verhaltens (sei es als gezielte Provokation oder als Ergebnis von Unvermögen) zurückzuführen denn auf unterschiedliche protonationale politische Kulturen, auch wenn sich Fremdzuschreibungen etwa in der Wahrnehmung Spaniens im Reich bereits im 16. Jahrhundert als wirkmächtig erwiesen.
Sechs weitere Beiträge befassen sich mit Wertekonflikten in politischen und religiösen Auseinandersetzungen. Dabei geht es um Wertediskurse im Investiturstreit (Christoph Dartmann), die diskursive Ausgrenzung ("judaisieren") der vom Judentum konvertierten "Neuchristen" im Spanien des 15. Jahrhunderts (David Nirenberg), den propagandistischen Einsatz von Tugenddiskursen in den Machtkämpfen in italienischen Gemeinwesen in der Renaissance (Ludwig Siep), die politische Funktion von Statuen, die Tugenden repräsentieren, im Florenz des 16. Jahrhunderts (Joachim Poeschke), den Versuch der Vermeidung konfessioneller Polarisierung in einem humanistisch geprägten Bühnenwettstreit in Gent im Jahr 1539 (Bert Ramakers) und um symbolische Auseinandersetzungen um die Neuordnung der französischen Republik nach dem Ende der Terreur (Rüdiger Schmidt und Christina Schröer).
So unterschiedlich die Themen des Bandes sind, so teilen doch die meisten Beiträge die in der Einleitung ausformulierte Grundannahme, dass vormoderne und moderne Gesellschaften sich in fundamentaler Weise darin unterscheiden, wie mit Wertewidersprüchen und Normenkonkurrenz umgegangen wird und dass dies besonders im Bereich der symbolischen Kommunikation fassbar ist. In der Vormoderne wird Wertepluralismus demnach im Sinne einer Hierarchie der Werte geordnet und harmonisiert, statt als Wertewiderspruch oder gar Werterelativismus thematisiert zu werden. Damit bezieht der Band klar Stellung in der wieder auflebenden Debatte um die Frage eines Epochenbruchs zwischen Früher Neuzeit und Moderne und die Tragfähigkeit des Konzepts der Sattelzeit. Gerade in diesem Zusammenhang zeigt sich aber auch ein Schwachpunkt in der Konzeption des Bandes: Sein zeitlicher Schwerpunkt liegt sehr ausgeprägt im Spätmittelalter und im 16. Jahrhundert. Nur zwei Aufsätze befassen sich mit dem 18. Jahrhundert, von denen nur einer den Wandel in der Wahrnehmung von Wertekonflikten in der Sattelzeit thematisiert: Christel Meier untersucht Streitdialoge im lateinischen Drama der Frühen Neuzeit als Ausdruck von Wertekonkurrenz. Sie konstatiert charakteristische Veränderungen im 18. Jahrhundert, als an die Stelle der personifizierten Gegenüberstellung von Wert und Unwert innere Wertekonflikte von Individuen treten.
Den hohen Wert des Bandes mindert dieses Ungleichgewicht aber keineswegs. Er umreißt in außerordentlich anregender Weise ein viel versprechendes Forschungsfeld und bietet weiterführende Ergebnisse. Es ist zu hoffen, dass die von ihm gebotenen Instrumentarien Forschungen beflügeln, welche sich der noch zu konstatierenden Forschungslücken zum Wandel von Wertekonflikten in der Sattelzeit annehmen werden.
Hillard von Thiessen