Michael Berger: Karl Marx (= UTB. Profile), Stuttgart: UTB 2008, 99 S., ISBN 978-3-8252-3010-4, EUR 9,90
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Der "ganze Marx", also Werk, Biografie und Wirkung auf weniger als 70 Textseiten? Das ist kühn, aber der Versuch von Michael Berger ist durchaus gelungen, wenn man den schmalen Band nicht überfordert. Mehr noch: Man muss sagen, dass vielleicht die Kürze des Textes und die Klarheit der Formulierungen den Weg zu Marx erst möglich machen, den der heutige Student und der interessierte Laie, die hier offensichtlich als Leser gedacht sind, ohne Hilfe kaum mehr zu gehen vermögen. Dazu ist der Umfang der marxschen Texte nicht nur zu groß; auch der inhaltliche Zugang zu ihnen ist alles andere als einfach, zumal Marx im Laufe seines Lebens vieles nur angedeutet, manches revidiert und - überhaupt - nur wenige große Arbeiten selbst für den Druck fertig gemacht hat. Die Kürze des Büchleins von Michael Berger ist auch insofern von Vorteil, als das Buch gerade nicht beansprucht, die Marx-Lektüre zu ersetzen. Man muss Marx schon selber lesen. Das wird klar!
Mit der schweren Zugänglichkeit des Werkes bei gleichzeitig großer Neugier auf das oft nur durch Floskeln und knappe Zitate bekannte Denken von Karl Marx beginnt Berger, um in einem kurzen Seitenblick den derzeitigen Stand der Marx-Forschung zu skizzieren. Der Text endet mit Überlegungen zur Aktualität des Werkes von Karl Marx, die der Autor ambivalent sieht. Einerseits sei vieles von dem, was Marx geschrieben hat, heute nur noch vor dem historischen Hintergrund des 19. Jahrhunderts rekonstruierbar und plausibel; andererseits findet Berger Marx' Überlegungen zur Einkommens- und Vermögensverteilung im Kapitalismus ebenso bis heute gültig wie seine Kritik der "bürgerlichen Denkformen", die weiterhin von einer "falschen Sachlichkeit des Denkens aus der Praxis des Warentauschs" Zeugnis ablegten und sich in einer Verdinglichung sozialer Beziehungen niederschlügen. Der Leser ist hier froh, dass Michael Berger glücklicherweise dieser "falschen Sachlichkeit" des Denkens entronnen ist, wäre aber gleichwohl interessiert zu wissen, wie gerade der Autor in einer verdinglichten kapitalistischen Welt sich dieses hohe Maß geistiger Autonomie bewahren bzw. erarbeiten konnte, während viele andere es nicht schafften. Berger hält auch die marxsche Vorstellung von der Politik als ständigem Kampf für weiterhin zutreffend, doch ist dieser Hinweis zu allgemein, um wirklich aussagefähig zu sein. Dass alle Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen sei, scheint auch Berger nicht ernsthaft behaupten zu wollen. Schließlich hält er die marxsche Religionskritik für "unverändert richtig", doch dürfte die von Berger im Anschluss an Marx hier vorgetragene platte Religionsauffassung kaum dem gegenwärtigen Stand der Religionsdiskussion gerecht werden. Überdies übersieht Berger in seiner Begeisterung für die marxsche Religionskritik den quasi-religiösen Charakter der marxschen Geschichtsauffassung, so dass ihm vielleicht auch gerade deshalb eine wirkliche historische Einordnung von Marx nicht gelingt. Doch dazu später mehr.
Den Kern der Darstellung bieten sechs Abschnitte, die sich zunächst mit der marxschen Geschichtsauffassung, sodann mit seiner ökonomischen Theorie und schließlich mit Aspekten der Gesellschaftstheorie befassen, bevor das politische Handeln von Karl Marx, sein "Privatleben" und seine Nachwirkungen zum Gegenstand der Überlegungen des Autors werden. Diese sechs Abschnitte sind trotz oder gerade wegen ihrer Gerafftheit außerordentlich lesenswert, betreiben freilich eine Lesart von Marx, die ihn in gewisser Hinsicht "verharmlost". Seine Vorstellungen von historischer Entwicklung, Klassenkampf, proletarischer Revolution und befreiter Menschheit bleiben blass, während Marxens Historisierung des Denkens vergleichsweise breit dargestellt wird (unter der nicht weiter belegten Unterstellung, Marx habe auch sein eigenes Denken, wenngleich stillschweigend, historisiert). Der revolutionäre Gehalt des kommunistischen Manifestes und seine nicht ganz unproblematische Botschaft von der gleichzeitigen Zwangsläufigkeit der Entwicklung wie ihrer Gestaltung durch menschliche Klassenkämpfe verschwinden daher hinter gleichwohl sehr interessanten Überlegungen zum Verhältnis von Struktur und Handlung, wie man das wohl in den 1970er-Jahren genannt hätte. Hier den Ausgangspunkt für Weber, Luhmann und Habermas zu setzen, ist dann freilich zumindest im Falle Luhmanns unterkomplex. Doch wie dem auch sei. Die Historisierung des Denkens ist zweifellos eine wesentliche Errungenschaft von Marx (in Anlehnung an Hegel), von der auch seine Kritik der politischen Ökonomie erheblich beeinflusst wurde, die auch die Entwicklung der ökonomischen Theorie historisierte und damit vom ökonomischen Naturalismus der klassischen Ökonomie Abschied nahm, die er andererseits aber gleichwohl beerbte, insbesondere im Bereich der Arbeitswertlehre und der Wert- und Preistheorie. Die schon in der Klassik (mit ihrer Neigung zum Denken in Gleichgewichten) vorhandenen Probleme gerade der Wert- und Preisbestimmung sollte Marx aber ebenfalls nicht lösen. Berger weist hier sehr zu Recht darauf hin, dass das Unabgeschlossene der ökonomischen Schriften von Karl Marx nicht zuletzt wohl dem Umstand zu verdanken ist, dass er um die nichtgelösten Fragen seiner werttheoretischen Annahmen wusste. Der marxschen Gesellschaftstheorie begegnet Berger im nächsten Kapitel erheblich weniger kritisch: Ausgehend von Hegels Vorstellung abstrakter Arbeit rekonstruiert er die marxschen Vorstellungen der Arbeit, den frühen Entfremdungsgedanken sowie die späteren Überlegungen zu Verdinglichung und Warenfetisch. In der kapitalistischen Gesellschaft legt sich insofern über die realen sozialen Beziehungen der Menschen ein Sachlichkeitsschleier, der den Durchblick auf deren Realität (und damit auch auf ihre Veränderbarkeit) verhindert.
An diese groben Skizzen zum Werk, die ausgesprochen instruktiv sind, auch wenn man sich ein wenig mehr Hinweise etwa zur materialistischen Geschichtsauffassung, zur Bedeutung der Produktivkräfte, zur Rolle der Klassenkämpfe, ja zu den treibenden historischen "Potenzen" und ihrer "Dialektik" überhaupt gewünscht hätte, schließen sich zwei kurze Kapitel zur politischen und familiären Biografie an, die zum einen den wenig begabten Politiker, dafür aber den um so größeren Beobachter, Räsonneur und Polemiker zeigen, der es in Organisationen offensichtlich nie lange aushielt, sondern sie über polemische Abgrenzungen zerstörte, zum anderen die nicht abreißenden Schwierigkeiten der materiellen Existenz von Karl Marx und sein schwieriges Familienleben beleuchten, das im Selbstmord seiner jüngsten Tochter Eleanor schließlich einen traurigen Endpunkt fand. Persönlich lässt sich Marx kaum als "Fortschrittsfreund" beschreiben: Er war wohl eher ein traditionell geprägter, patriarchalisch veranlagter Gelehrter, der zu polemischer Rechthaberei neigte, ein Charakterzug, den bereits Otto Rühle in seiner vorzüglichen Marx-Biografie aus den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts herausgestrichen hatte. Den Abschluss der Darstellung bieten ein kurzer Überblick über die Marx-Rezeption und der Verweis, dass nicht zuletzt wegen der Unzugänglichkeit vieler Texte Marx in gewisser Hinsicht ein Opfer seiner Vereinfacher wurde, angefangen bereits bei Friedrich Engels' Anti-Dühring über Lenin und Stalin bis hinein in die zahlreichen Aktualisierungen von Marx in den 1960er- und 1970er-Jahren.
Berger sieht Marx alles in allem durchaus realistisch, neigt aber dazu, ihn in gewisser Hinsicht zu verharmlosen und die Folgen seines Werkes vor allem den Simplifikateuren zuzurechnen. Natürlich ist Marx nicht dafür verantwortlich zu machen, was in seinem Namen im 20. Jahrhundert verbrochen wurde. Aber sein Denken besaß geradezu konstitutiv den Impuls einer Erlösungslehre, die nur insofern revolutionär war, als sie die Erlösung nicht mehr im Jenseits erwartete, sondern dem historischen Prozess selbst als eine Möglichkeit seiner selbst unterstellte, sollten die Produktivkräfte nur weit genug entwickelt sein. Dieses semantische Schema von Unerlöstheit und Erlösung ist im Kern religiös, und insofern ist gerade die von Berger so hervorgehobene Religionskritik letztlich nichts anderes als ein Ergebnis des platten materialistischen Fortschrittsglaubens des 19. Jahrhunderts von der "Entzauberung der Welt". Nur erwartete Max Weber sich hiervon eben gerade keine Erlösung, sondern den Zwang zum Aushalten der Moderne, während für Marx das alles noch in die Vorgeschichte der Menschheit fiel. Als religiöser Denker gehört Marx insofern anders als Max Weber (und vor allem völlig anders als Niklas Luhmann) im Grunde zur alteuropäischen Tradition; modern ist er nur insofern, als er die Erlösung der Menschheit von der neuen Industrie und ihrer Vereinfachung der Welt erwartete, durch die das Proletariat die Chance zur welterlösenden Tat bekommen sollte. Das Buch von Berger ist als Einführung zur eigenen Auseinandersetzung mit Marx sehr zu empfehlen. Nur sollte von der "Erlösung der Menschheit" nicht schweigen, wer von Marx handelt.
Werner Plumpe