Marcus Meier: Die Schwarzenauer Neutäufer. Genese einer Gemeindebildung zwischen Pietismus und Täufertum (= Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; Bd. 53), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, 304 S., ISBN 978-3-525-55834-8, EUR 49,90
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Marcus Meier untersucht am Beispiel der Schwarzenauer Neutäufer das Verhältnis von Pietismus und Täufertum. Wie der Titel seiner Marburger theologischen Dissertation andeutet, charakterisiert er die Neutäufer als radikalpietistische Gruppierung, die in entscheidenden Punkten täuferische Einflüsse aufnahm. Demzufolge spielte das Täufertum entgegen anders lautenden Forschungsmeinungen für die Frühphase des Pietismus durchaus eine gewisse Rolle. Innerhalb der pietistischen Bewegung ist die radikale Strömung im Vergleich zur kirchlichen weniger erforscht. Diese Konzentration auf den innerkirchlichen Pietismus hat auch die Frage nach den Grenzen der gesamten Bewegung lange bestimmt. Verbindungen und Abgrenzungen ihrer verschiedenen Gruppierungen und Personen untereinander wie nach außen (insbesondere zu den Taufgesinnten) wurden lange vernachlässigt. Meier erklärt dies in seiner knappen Einleitung mit der einseitig biographischen Fixierung der Pietismus-Forschung (12), ohne freilich die Vorzüge seiner Wiederbelebung des traditionsgeschichtlichen Ansatzes darzulegen. Indem er einige ausgewählte Gründer/innen der Gemeinde ins Visier nimmt, verquickt er die Biographie mit der Traditionsgeschichte.
Im ersten Teil der Arbeit untersucht Meier die religiöse Entwicklung dieser Beteiligten der ersten Glaubenstaufe in der Eder bei Schwarzenau (1708) vor dem Hintergrund ihrer konfessionellen, geographischen und sozialen Herkunft sowie ihres Buchbesitzes. Auf der Grundlage umfassender Archivrecherchen rekonstruiert er ihre persönlichen Verbindungen zu Vertretern des radikalen Pietismus (etwa Hochmann von Hochenau und Johann Heinrich Horch) sowie zu den Taufgesinnten (Mennoniten und Amische). Demnach hatten sich die ersten Neutäufer bereits vor ihrem Zusammenschluss von ihrer jeweiligen Kirche abgewandt und pflegten unter dem Eindruck chiliastischer Naherwartung Kontakte zu unterschiedlichen Gruppierungen und Einzelpersonen. An verschiedenen Bezugstexten, etwa den anonym verfassten "Güldenen Aepffeln in silbernen Schalen" oder Gottfried Arnolds "Wahrer Abbildung der Ersten Christen", zeigt Meier, mit welchen Aspekten die Neutäufer übereinstimmten und welche sie ablehnten. Er berücksichtigt auch englische Schriften von Jane Leade, der Gründerin der Philadelphischen Sozietät, und von den Quäkern. Besonders intensiv hätten die Neutäufer den philadelphischen Gedanken der überkonfessionellen 'Bruderliebe' rezipiert. Die ersten Zentren neutäuferischer Aktivität verortet Meier in der Pfalz und in Wittgenstein, wo sie sich nach der Jahrhundertwende unter günstigen Rahmenbedingungen ansiedelten.
Die "theologische Gedankenwelt" der Neutäufer (etwa ihre Haltung zum Urchristentum und zur Taufe oder ihr Kirchenverständnis) betrachtet Meier im zweiten Teil. Dabei revidiert er einige ältere Ansichten der Forschung: So seien die Neutäufer zur Taufe durch Untertauchen nicht von den niederländischen Kollegianten, den Sozinianern oder den Schweizer Mennoniten angeregt worden, sondern hätten vielmehr auf eine innerhalb des radikalen Pietismus geführte Diskussion reagiert (267). Daneben greift er Ernst Troeltschs Typologie aus dessen "Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" (1912) auf, die das Täufertum den "Sekten" und den Spiritualismus der "Mystik" zuordnet. Differenzen der Neutäufer zu anderen radikalen Pietisten beruhten Meier zufolge nicht auf einem "vermeintlich prinzipiellen Gegensatz von Pietismus und Täufertum." Vielmehr seien sie im Sinne Troeltschs der unterschiedlichen "religiösen Sozialisation" zuzurechnen (176), wobei sich die Neutäufer von ihrer überwiegend reformierten Herkunft leiten ließen. Als Ergebnis unterscheidet Meier innerhalb des radikalen Pietismus einen "reinen" und einen "gemäßigten mystischen Spiritualismus" sowie eine täuferisch beeinflusste Richtung, an der sich die Neutäufer orientierten. (267)
Meier stellt sich den Herausforderungen einer unbeliebten Quellengruppe: den umfangreichen, sich häufig wiederholenden oder gar widersprechenden radikal-religiösen Druckschriften. Auch die von ihm benutzten Archivalien sind mit Problemen behaftet, auf die er wiederholt hinweist. Verfolgte Gruppen wie die radikalen Pietisten wollten ihre Gesinnungsgenossen nicht durch Namensnennung gefährden (15, 107). Die Äußerungen orthodoxer Theologen schließlich problematisiert Meier zu Recht, weil sie zur Polemik neigen, aber auch wichtige Anhaltspunkte bieten (137). Dennoch kann sein Umgang mit den Quellen im ersten Teil der Arbeit stellenweise nur bedingt überzeugen. So führen räumliche Nähe und textliche Übereinstimmungen Meier zu der Annahme, die Bannpraxis der Neutäufer sei "vermutlich auf persönliche Begegnungen mit Amischen zurückzuführen" (121). Vom Vergleich zwischen Arnolds "Wahrer Abbildung" und der "Apologia" des Quäkers Robert Barclay leitet er eine Abhängigkeit Arnolds "von quäkerischen Schriften" ab (136-7). Solche Zusammenhänge sind natürlich denkbar, und es ist überaus erstrebenswert, sie aufzudecken und nachzuweisen; man würde sich allerdings wünschen, dass bloße Indizien gerade angesichts der Quellenproblematik zurückhaltender gewichtet und dass neben kanonisierten Texten auch andere berücksichtigt würden.
Manche bei näherer Betrachtung womöglich voreiligen Verallgemeinerungen müssen erst durch weitere Untersuchungen erhärtet werden: Etwa die Feststellung Meiers, neben den Neutäufern seien auch "Inspirierte und Herrnhuter Brüdergemeine [...] Varianten des englischen Philadelphiertums" (265). Insbesondere die Herrnhuter verdienen eine differenziertere Betrachtung; so reduziert Meier die Initialzündung zu ihrer umfangreichen Missionstätigkeit auf den Impuls der Schriften Leades (243) - wie er überhaupt den Aspekt der Missionierung recht sparsam behandelt.
Im Ganzen trägt die Arbeit jedoch sehr dazu bei, eine lange vernachlässigte Gruppierung ins Blickfeld zu rücken und ihre Bemühungen um überkonfessionelle Verständigung sowie die Herausbildung verschiedener Standpunkte innerhalb des radikalen Pietismus zu erhellen. Sie stärkt die These von der religiösen Sensibilisierung infolge krisenhafter Entwicklungen, indem sie die Entstehung des Neutäufertums mit außerreligiösen Problemlagen wie sozioökonomischem Wandel und Kriegserfahrungen verknüpft.
Für die Erforschung frühneuzeitlicher Frömmigkeit sind traditionsgeschichtliche Beziehungen wichtig, weil sie zu dem erstaunlichen Ausmaß der Vernetzung und des Austauschs zwischen den verschiedenen Gruppierungen beitrugen. Der traditionsgeschichtliche Ansatz bedarf allerdings sorgsamer Kritik. Sonst läuft er Gefahr, einseitige, historisierungsbedürftige Fremd- und Selbstbezeichnungen wie "Neutäufer" oder "historische Friedenskirchen" (13) nachträglich zu legitimieren, wenn er die verschiedenen Gruppierungen nach einschlägigen Kriterien (etwa der Haltung zur Wassertaufe oder zum Wehrdienst) sortiert. Daneben kann die Überbetonung von Einflüssen und Abhängigkeiten den Verdacht einer neu aufgelegten Genealogie der Freikirchen nach Art der konfessionell geprägten Geschichtsschreibung wecken. Hier wäre es hilfreich, weitere Aspekte der Wechselbeziehungen näher zu beleuchten, die im ersten Teil dieser insgesamt anregenden Studie durchscheinen - etwa den kommunikationshistorischen oder den geschlechtergeschichtlichen.
Sünne Juterczenka