Pierre-Étienne Bourgeois de Boynes: Journal inédit, 1765-1766. Suivi du Mémoire remis par le duc de Choiseul au roi Louis XV, 1765. Édition établie et annotée par Marion F. Godfroy (= Bibliothèque des Correspondances, Mémoires et Journaux; 47), Paris: Editions Honoré Champion 2008, 510 S., ISBN 978-2-7453-1762-9, CHF 76,80
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Die nicht wenigen Memoiren und Tagebücher, die uns über die Regierung und die Persönlichkeit Ludwigs XV. (1710/1715-1774) von Frankreich unterrichten, leiden bedauerlicherweise unter dem Manko, dass sie oft ein verzerrtes und einseitiges Bild des Königs vor dem Leser entfalten. Dies hat zweifellos mit den Autoren zu tun, von denen nicht wenige vom König aus hohen Regierungsämtern entlassen und ins Exil geschickt wurden (Marquis d'Argenson, Bernis, Choiseul). Andere Autoren profitierten zwar von der Nähe zum König (Duc de Croy), verfügten aber über keine Regierungsämter.
Aus diesem Grunde ist die hier anzuzeigende Publikation des Tagebuchs von Pierre-Étienne Bourgeois de Boynes durchaus als Glücksfall zu bezeichnen, ermöglicht es doch aus der Perspektive eines Mitarbeiters oder modern gesprochen "Topbeamten" über zwei für die französische Geschichte bedeutende Jahre einen Einblick in den Regierungsalltag des Ancien Régime. Geboten wird ein Ausschnitt aus dem Innenleben des Machtzentrums, und zugleich kann der Leser verfolgen, wie am Hofe Ludwigs XV. politische Entscheidungen getroffen wurden.
Der Autor des Tagebuchs, Pierre-Étienne Bourgeois de Boynes (1718-1783), kann als Prototyp eines ranghohen Staatsdieners des Ancien Régime betrachtet werden. Sein Vater erwarb das Amt eines maîtres des requêtes, eines der wichtigsten Ämter, die die monarchische Administration zu vergeben hatte. Sein Sohn erbte das Amt und durchlief dann die typische Laufbahn eines maître des requêtes, die ihn als Intendanten nach Burgund führte und in der Übernahme des Staatssekretariats für die Marine 1771 gipfelte. Boynes genoss in einer früheren Phase seiner Karriere die Protektion des Marschalls von Belle-Isle (Staatssekretär für das Kriegswesen 1758-1761) und zeichnete sich in den Konflikten zwischen der Krone und den Parlements, die 1766 einen Höhepunkt erreichten, als loyaler Verteidiger der absoluten Monarchie aus. Am so genannten "Staatstreich" des Kanzlers Maupeou, der mit Einwilligung Ludwigs XV. 1770 die Parlements abschaffte und durch direkt dem König unterstellte Gerichte ersetzte, war er ebenfalls beteiligt. Der Machtwechsel von 1774 bedeutete das Ende seiner Laufbahn.
Über das Manuskript macht die Herausgeberin in ihrer Einleitung, in der Boynes ausführlich vorgestellt wird, (16-34) nur wenige Angaben. Es entstammt dem Privatarchiv der Nachkommen Boynes. (11) Druckvorlage war, folgt man ihren Angaben, eine Kopie aus dem 19. Jahrhundert. (16) Eine "édition critique" liegt nicht vor, gleichwohl eine lesbare und mit Kommentaren, vor allem über die im Text genannten Personen, versehene Ausgabe. Ein knappes Literaturverzeichnis sowie ein Orts-, Namens- und Sachregister ergänzen die Edition. Warum die Denkschrift Choiseuls ("Mémoire de Monsieur de Choiseul remis au Roi en 1765"), in der er 1765 seine seit 1758 verfolgte Politik vor dem König rechtfertigt, mit in die Edition aufgenommen wurde, wird nicht näher erklärt. (447-477)
Der Feststellung der Herausgeberin, das Tagebuch biete eine "vision intime [...] de l'exercice du pouvoir" ist zuzustimmen. Boynes pendelte, immer mit neuen Aufträgen betraut, zwischen den Staatsministern (Choiseul, Praslin und dem "contrôleur général des finances", L'Averdy) hin und her. Er überbrachte Schriftstücke oder fertigte Vorlagen für die Sitzungen mit dem König an, konferierte über aktuelle Fragen der Tagespolitik und hielt die Ereignisse des Tages in seinem Tagebuch fest. Im Aufbau ähneln die Aufzeichnungen den diplomatischen Korrespondenzen der Epoche: Kopien und Auszüge von Briefen (170) und immer wieder Gesprächsprotokolle, die, wie das Beispiel der "séance de la flagellation" des Pariser Parlements zeigt, minutiös die Rekonstruktion des Entscheidungsprozesses ermöglichen.
Gezwungen, eine angemessene Antwort auf die fortgesetzte Opposition der Parlements zu finden, drehen sich die Aufzeichnungen vom Februar 1766 vor allem um das wie der Reaktion des Königs. Hierzu wurden über Wochen die verschiedensten Szenarien durchgespielt und immer wieder dem König vorgelegt bzw. mit ihm durchgesprochen. Ludwig XV. stand dabei, so zeigen die Aufzeichnungen Boynes, vor der grundsätzlichen Wahl, ob er eine Abordnung des Parlements nach Versailles zitieren oder selbst im Parlement erscheinen solle. Gegen ersteres wandten sich einvernehmlich alle Ratgeber des Königs - zu gro#223; war die Gefahr, dass die Schärfe der königlichen Antwort verpuffen würde. Doch auch die Alternative, die allgemein favorisiert wurde, barg ein gravierendes Problem. Für das Erscheinen des Königs im Parlement, im Rahmen eines "Lit de justice", musste der Kanzler (Guillaume de Lamoignon) anwesend sein, doch diesen hatte der König ins Exil geschickt, und er weigerte sich, ihn auch nur für kurze Zeit zurückzurufen.
Aus den Aufzeichnungen geht nicht hervor, wer die Idee für einen Ausweg aus diesem Dilemma hatte - gewählt wurde ein "dritter Weg". Am 3. März erschien Ludwig XV. nur mit kleinem Gefolge persönlich und unter Verzicht auf den normalerweise üblichen zeremoniellen Rahmen im Parlement. Dort ließ er jene Rede verlesen, die als "discours de la flagellation" bekannt ist und die wie keine andere von ihm überlieferte Äußerung sein Selbst- und Herrschaftsverständnis beinhaltet. (418-421)[1] An der Ausarbeitung der Rede war Boynes beteiligt. (151-152, 268.) Bedauerlicherweise ist der "Discours" nicht in der Edition enthalten, obwohl sich dies durchaus rechtfertigen ließe, da das Tagebuch Auskunft über seine Genese gibt. Der (zumindest kurzfristige) Erfolg gab Ludwig XV. Recht. Boynes notiert eine "grande consternation" im Parlement und den Applaus der Öffentlichkeit (420, 422) im Anschluß an den Auftritt des Königs.
Boynes Beschreibung der Arbeitsweise der Minister und der Ratsgremien bestätigt die vor allem von Michel Antoine maßgeblich eingeleitete Rehabilitation Ludwigs XV., der keineswegs ein willensloser Spielball seiner Minister, sondern ein sein "métier du roi" ernst nehmender Monarch war. Bei Boynes kann man lesen, wie sich der König ausführlich beraten ließ, wie ihm das für und wider der jeweiligen Optionen dargelegt wurde, wie er nachfragte und nach Einwänden der Minister seine Auffassungen korrigierte. (399, 410, 414) Die eigentliche Festlegung erfolgte aber nicht im Staatsrat. Der König ließ die Minister gewähren, die wiederum oftmals unsicher über seine Absichten waren. Der Weg zu einer Entscheidung und ihrer Kommunikation durch den Monarchen war komplex - kein Zweifel aber besteht daran, dass er sich intensiv mit den Problemen der Regierung auseinandersetzte (bes. 413: "Ils [L'Averdy, Choiseul und andere Minister] ont conclu l'un et l'autre des objections faites hier par le roi que le projet l'occupait et qu'il cherchait à se décider").
Boynes Tagebuch bricht mit dem 21. April 1766 ab. Ob hier nur ein Fragment eines weitaus umfangreicheren Tagesbuches vorliegen könnte, darüber äußert sich die Herausgeberin nicht, wie sie auch den Bestand des Privatarchivs der Familie Boynes nicht näher charakterisiert. Nichtsdestotrotz geben die Aufzeichnungen einen faszinierenden Einblick in die Regierungspraxis in Frankreich nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges und ermöglichen eine Vertiefung unserer Kenntnisse einer Schlüsselepoche der Geschichte der französischen Monarchie.
Anmerkung:
[1] Der Text des "Discours de la flagellation" ist zugänglich unter http://www.scribd.com/doc/2529849/Flagellation-1766 oder http://www.histoire.ac-versailles.fr/IMG/html/Arpresent.html.
Sven Externbrink