Ulrich Pfeil (Hg.): Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die "Ökumene der Historiker". Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz (= Pariser Historische Studien; Bd. 89), München: Oldenbourg 2008, 342 S., ISBN 978-3-486-58795-1, EUR 39,80
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Der von Ulrich Pfeil (Saint-Étienne) herausgegebene Konferenzband erkundet das Verhältnis der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 zu den Berufskollegen im westlichen Europa und in den USA. Wie in den beiden Vorgängerbänden des Deutschen Historischen Instituts in Paris [1] dominieren die deutsch-französischen Historikerbeziehungen. Leider fehlt ein theoretischer Beitrag, der aus den Einzeluntersuchungen tatsächlich einen "wissenschaftsgeschichtlichen Ansatz" zu formen versuchte. Der Herausgeber ist selbst allerdings mit einer aufschlussreichen Quellenstudie vertreten, die der erstaunlich engen Verflechtung westdeutscher Historiker mit der selbstbewussten Kulturpolitik des Auswärtigen Amtes im Kalten Krieg nachgeht.
Zunächst geben Christoph Cornelißen, Thomas Etzemüller und Axel Schildt Überblicke zur deutschen Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre. Immer wieder wird dabei die wichtige Rolle des national-konservativen Gerhard Ritter deutlich. Verstörend unverschämt sprach er vom "deutschen Ghetto" (zitiert bei Cornelißen, 20), in dem sich seine Zunft durch ihre internationale Isolierung nach 1945 befinde. Ritter fand Mittel und Wege zu ihrer Überwindung. Er konnte sich gegen die nationale Konkurrenz der "Abendland"-Historiker ebenso durchsetzen wie gegen seinen französischen Gegenspieler Robert Fawtier, der das Kriegsende im KZ Mauthausen überlebt hatte.
Der zweite Abschnitt vertieft die "Reinstitutionalisierung und Neuorientierung" der deutschen Geschichtswissenschaft. Theodor Mayers Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte in Konstanz konnte erst Ende der 1980er Jahre westeuropäische Gelehrte für sich gewinnen. Hingegen zeigten osteuropäische Historiker schon 20 Jahre früher keine Berührungsängste mehr gegenüber den in Mayers Arbeitskreis vertretenen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern (Anne Chr. Nagel). Eine spannungsreiche transnationale Öffnung erfuhr demgegenüber schon seit den 1950er Jahren die Zeitgeschichte Deutschlands - sowohl als Fach als auch als Thema: Durch die Aufarbeitung der von den Alliierten beschlagnahmten NS-Akten wurde die deutsche Zeitgeschichte von kooperierenden und zugleich konkurrierenden amerikanischen, britischen und deutschen Historikern begründet (Astrid M. Eckert).
Eine Stärke des Bandes ist die Aufmerksamkeit für die Geschichte der Geschichtsdidaktik, etwa bezüglich der Historikerbegegnungen in Speyer (Corinne Defrance) oder der Entstehung des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz (Winfried Schulze). Der Sozialdemokrat und habilitierte Ethnologe Georg Eckert begründete als Außenseiter das Institut für Internationale Schulbuchforschung in Braunschweig (Rainer Riemenschneider). Eckert knüpfte Beziehungen zu französischen Didaktikern und forcierte in Deutschland die zunächst unvermeidliche Funktionalisierung des Unterrichtsfaches für die staatsbürgerliche Erziehung.
Die "Deutsch-französischen Historikerbeziehungen" sind Thema des dritten Abschnitts. Die Vorbehalte der französischen Historiker waren immens und keineswegs unberechtigt. So war mit Martin Göhring ein Spezialist für französische Geschichte, ein sprachkundiger Kommunikator, aber eben auch ein ehemaliges NSDAP-Mitglied lange Jahre Direktor des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz (Heinz Duchhardt).
Daher sollten die ersten Anzeichen einer Öffnung der national orientierten Disziplin auch nicht überbewertet werden. Am Beispiel der gescheiterten Rezeption Marc Blochs in Deutschland, die von einem lang anhaltenden menschlichen und wissenschaftlichen Desinteresse gekennzeichnet war, empfiehlt Peter Schöttler, vor allem nach "Widerständen und Rezeptionsbarrieren" (159) für internationalen Austausch zu fragen. Bloch habe bei den wenigen Ansätzen zur Auseinandersetzung als Projektionsfläche für die historisch-politischen Wünsche der Akteure gedient. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass Schöttlers Intervention das normative Grundverständnis aller Beiträge des Bandes deutlich macht: Internationalität der Geschichtswissenschaft sollte die selbstverständliche Regel sein. Die nationalzentrierte Vergangenheit des Faches wird so als defizitäres Frühstadium wissenschaftlicher Praxis gedeutet.
Wie fruchtbar die Auswertung von Texten sein kann, die der internen Fachkommunikation dienten, zeigt Agnès Graceffa unter anderem am Beispiel der französischen Forschungsberichte zum Frühmittelalter. Die wechselseitige Wahrnehmung deutscher und französischer Historiker führte demnach zur Herausbildung eines "entschieden europäischen Denkstils" (211), zu der auch der europäische Einigungsprozess beigetragen habe. Die zum Teil grotesken nationalistischen Interpretationen zum germanischen bzw. romanischen Frühmittelalter sind nun durch ein europäisches Geschichtsbild ersetzt worden, das wiederum einem neuen politischen Interesse folgt - was Graceffa leider nicht mehr problematisiert.
Ein Preis für die Wendung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach Westeuropa war der Zerfall der deutsch-deutschen Geschichtswissenschaft, wie Martin Sabrow im letzten Abschnitt des Bandes darlegt. Als einziger Autor problematisiert er kurz und knapp die analytische Tauglichkeit des normativen Begriffs der "Historiker-Ökumene". [2] In einem streitbaren Aufsatz behandelt Mario Keßler das gleiche Thema mit Konzentration auf die Geschichtswissenschaft der DDR. Als ausgewiesener Kenner spitzt er seine Analyse zu einer deutlichen Aufwertung der DDR-Geschichtswissenschaft zu. In ihrem verheißungsvollen Auftakt nach 1945 sieht er einen frühen "Vorsprung" (282f.) gegenüber der westdeutschen Konkurrenz. Damit stellt Keßler die Legitimität der "Abwicklung" der ostdeutschen Historie nach 1989 in Frage (285). Er konstatiert demgegenüber für die westdeutsche Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte, dass sie ihre Grenzen in der Loyalität zur Bundesrepublik und der Marginalisierung marxistischer Historiker gefunden habe (282f.). Zweifel an diesen Urteilen sind angebracht, denn sie ebnen wichtige Unterschiede zwischen Ost- und Westhistorie ein. Keßler benennt denn auch selbst für die DDR-Geschichtswissenschaft die "Parteilichkeit" als ungelöstes "Dilemma" (274). Zugleich eröffnet seine Argumentation aber eine interessante Perspektive auf die westdeutsche Geschichtswissenschaft, anhand derer die bereits erstaunlich verfestigte Aufstiegserzählung zur westlich-liberalen Sozialgeschichte etwas differenziert werden könnte.
Den Sammelband dominiert das Bedürfnis nach kritischer Selbstverständigung über Vergangenheit und Zukunft des eigenen Faches (vgl. das Vorwort von Ulrich Pfeil, 14), hinter dem das Interesse an der Historisierung der eigenen Disziplingeschichte eher zurückstehen muss. Letztere hätte auch zu erklären, wie unsere heute selbstverständliche Überzeugung entstand, dass eine disziplinäre Öffnung über nationale Grenzen hinweg immer einen Gewinn an wissenschaftlicher Qualität bedeutet. Und sie hätte die nur scheinbar neutralen Begriffe "international" oder "europäisch" auf ihre historischen Funktionen zu befragen, anstatt sie lediglich deskriptiv zu verwenden (etwa 79, 135, 305).
Anmerkungen:
[1] Ulrich Pfeil (Hg.): Das Deutsche Historische Institut Paris und seine Gründungsväter. Ein personengeschichtlicher Ansatz, München 2007, sowie ders. (Hg.): Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz, München 2007.
[2] Vgl. Karl Dietrich Erdmann: Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité International des Sciences Historiques, Göttingen 1987.
Alexander Thomas