Konrad H. Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, 362 S., ISBN 978-3-525-36153-5, EUR 29,90
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Die siebziger Jahre haben Konjunktur. Nachdem die Geschichtswissenschaft den wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Wandel zunächst der fünfziger, dann der sechziger Jahre in den Mittelpunkt rückte, richtet sich der Blick seit geraumer Zeit auf die Siebziger. Doch steckt hinter diesem Interesse mehr als nur das übliche dekadenweise Voranschreiten des Historikers. Denn er wendet sich einem Jahrzehnt zu, das innerhalb der Nachkriegsgeschichte eine Zäsur, ja mit Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts möglicherweise eine Epochengrenze markiert. Dabei wird vor allem sein Krisencharakter herausgestellt. "Postindustrielle Gesellschaft", "Risikogesellschaft", "Wertewandel", "Postmoderne" und "Unregierbarkeit" sind nur einige der Schlagwörter, mit denen bereits die Zeitgenossen versuchten, den fundamentalen industriellen, politischen und sozio-kulturellen Wandel zu erfassen. Allen ist freilich gemeinsam, dass sie bei näherer Betrachtung, wie Konrad Jarausch in seiner Einleitung hervorhebt, gleichermaßen unbefriedigend wie ausschnitthaft sind. Sie spiegeln deshalb eher die Ratlosigkeit, mit der die Politik und ihre Experten seinerzeit auf den Umbruch reagierten. Kann der retrospektiv arbeitende Historiker hier mehr zur Analyse und Begriffsbildung beitragen?
Die insgesamt achtzehn Beiträge des Sammelbandes, die auf eine Potsdamer Konferenz im Sommer 2007 zurückgehen, unternehmen ausdrücklich den Versuch, die siebziger Jahre zu historisieren. In vier Abschnitten beleuchten jeweils vier Autoren die Transformation für ausgewählte Bereiche aus Wirtschaft, Arbeit und Soziales, Alltag sowie Politik. Auch die deutsch-deutsche und die europäische Entwicklung gerät nicht aus dem Blick. Dabei gehen zahlreiche Autoren über den gesetzten Zeitrahmen hinaus und ordnen den Umbruch in längerfristige, zum Teil auf die Zeit vor 1945 zurückreichende Wandlungsprozesse ein oder spinnen den Faden weiter bis in die achtziger und neunziger Jahre. Umrahmt werden die empirischen Beiträge von einer das Thema des Buches problematisierenden und die Ergebnisse der Einzelbeiträge bündelnden Einleitung des Herausgebers sowie zwei abschließenden Essays von Anselm Doering-Manteuffel zur historischen Einordnung der siebziger Jahre und von Konrad Jarausch, der es unternimmt, die Entwicklung seit 1973 in den größeren Zusammenhang der anhaltenden Globalisierung zu rücken.
Wie die Beiträge, auf die im Folgenden nur unvollständig eingegangen werden kann, deutlich machen, war das Jahrzehnt von Widersprüchen geprägt. In jeder Krise liegt bekanntlich eben auch eine Chance, Niedergang und Aufbruch liegen dicht beieinander. Dem Niedergang der Textilindustrie, den Stephan H. Lindner eindrücklich schildert, entsprach so das Aufkommen neuer Technologien wie der Mikroelektronik. Mit deren Hilfe wiederum vermochte es die westdeutsche Autoindustrie, wie Reinhold Bauer zeigt, die Herausforderungen der Energie- und Absatzkrise anzunehmen, auch wenn sie einen Teil ihrer Weltmarktstellung an Japan abgeben musste. Positive Akzente vermag auch der "Aufbrüche im Alltag" überschriebene Abschnitt zu setzen, so etwa bei der Entwicklung der Erwerbstätigkeit von Frauen (Monika Mattes).
Vor ganz besonderen Herausforderungen stand freilich der Sozialstaat. Kenntnisreich zeichnen Christoph Boyer und Winfried Süß dessen Ausbau zu einem immer weitere Bereiche umfassenden sozialen Sicherungssystem nach, der von einem breiten Konsens aus Politik und Öffentlichkeit getragen und als Weg zu "mehr sozialer Teilhabe im Zeichen wachsenden Wohlstands" (121) gesehen wurde. Vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen gestaltete sich jegliches Regierungshandeln freilich immer schwieriger, zumal weder die Entscheidungseliten noch die Öffentlichkeit das ganze Ausmaß des Strukturwandels erkannten und weiterhin in den Kategorien "normaler" konjunktureller Schwankungen dachten. Wie aus den Beiträgen von Hartmut Soell und Gabriele Metzler hervorgeht, begann sich in jener Phase auch das staatliche Handeln zu verändern. So zog Helmut Schmidt aus dem Entstehen einer "Globalökonomie" den richtigen Schluss, dass eine Eindämmung der Krisenfolgen nur auf europäischer Ebene und auf den von ihm mitinitiierten Weltwirtschaftsgipfeln möglich sei. Unterdessen lässt sich am Beispiel der Debatte linker und neoliberaler Kommentatoren darüber, ob der "spätkapitalistische" oder sozial überforderte Staat "unregierbar" geworden sei, erkennen, dass - obwohl sich der Staat angesichts der vielfältigen Herausforderungen als "bemerkenswert handlungsfähig" (255) erwies - das Vertrauen in die "Allmacht des Staates" nachließ und allmählich einem "Akteurspluralismus" wich (256).
Es ist ein Verdienst des Bandes, durch einen systemübergreifenden, insbesondere deutsch-deutschen Vergleich nachzuweisen, dass auch die östlichen Wirtschaftssysteme keineswegs von den globalen Entwicklungen abgekoppelt waren. Dabei wurde die DDR von den Folgen des Umbruchs mit zeitlicher Verzögerung getroffen. Die Versuche Ost-Berlins, Anschluss an den technologischen Fortschritt zu halten und die Konsumbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, waren allerdings im starren Rahmen einer Zentralverwaltungswirtschaft langfristig nicht erfolgreich und vergrößerten letztlich sogar die Abhängigkeit von den flexibler agierenden westlichen Industriestaaten (André Steiner, Peter Hübner, Christoph Boyer). Diesen Befund bestätigt auch Michael Schwartz mit seiner Analyse der Familienpolitik und des Abtreibungsrechts, die zu dem Ergebnis kommt, dass das SED-Regime die Folgelasten seiner Sozialpolitik nicht mehr bewältigen konnte.
Der Band zeichnet insgesamt ein facettenreiches Bild der siebziger Jahre und ist ein eindrucksvoller Beleg für die Leistungsfähigkeit historischer Fragestellungen. Weitere Detailforschungen sind dringend notwendig.[1] Für ein vollständiges Bild wäre es jedoch notwendig, die Politikgeschichte stärker einzubeziehen. Doering-Manteuffel weist etwa zu Recht auf das Veränderungspotential der Entspannungspolitik hin, die sich parallel zu dem von den Autoren behandelten Transformationsprozess entfaltete (320). Tatsächlich spiegeln, um nur zwei Beispiele zu nennen, die Neue Ostpolitik wie die Nachrüstungsdebatte außenpolitisch die mit der sozial-liberalen Ära innen- und gesellschaftspolitisch verknüpften Hoffnungen wie Zukunftsängste wieder und wären geeignet, die These von der "Strukturkrise als zeithistorischer Zäsur" (313) weiter zu differenzieren. Es muss deshalb das Ziel einer Historisierung der siebziger Jahre sein, bei einer Gesamtbetrachtung sozial-, wirtschafts-, gesellschafts- und eben auch politikgeschichtliche Perspektiven vergleichend zu berücksichtigen.
Und der Epochencharakter des Jahrzehnts? Nach der Lektüre der Beiträge wird klar, dass die turbulenten Siebziger eine zwischen Krise und Aufbruch, Beharrung und Fortschritt oszillierende Dekade darstellen. Bei aller Widersprüchlichkeit ergibt sich aus den Beiträgen der vorläufige Befund, dass die siebziger Jahre deshalb weniger einen Epochenwechsel vollziehen als einen Übergang einleiten, der noch keinesfalls, wie Jarausch in seinem Schlussbeitrag demonstriert, abgeschlossen ist. Und eine postbürgerliche Gesellschaft, welche das fast zwei Jahrhunderte bis zur Zäsur der siebziger Jahre gültige Modell ersetzen wird, ist bestenfalls in Umrissen zu erkennen. Es mag daher für den Historiker noch zu früh sein, gesicherte Aussagen zur Gesamtepoche zu machen. Aber, das stellt dieses Buch eindrücklich unter Beweis, es ist nicht zu früh, damit zu beginnen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Thomas Raithel / Andreas Rödder / Andreas Wirsching (Hgg.): Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009.
Matthias Peter