Robert Bohn / Christoph Cornelißen / Karl Christian Lammers (Hgg.): Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Deutschland und Skandinavien seit 1945, Essen: Klartext 2008, 271 S., ISBN 978-3-89861-988-2, EUR 32,00
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Seit Längerem blicken Historiker beim Thema Erinnerung und NS-Zeit über den deutschen Tellerrand. Doch während für West- und Osteuropa fundierte Studien vorliegen, ist der skandinavische Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg selten ein Thema für deutsche Historiker gewesen. Dieser Band möchte das ändern, wie die Herausgeber in ihrer Einführung erklären, und den "ausgeblendeten Norden Europas" (11) erforschen. In vier Abschnitten beschäftigen sich die 18 Autoren daher sowohl mit der skandinavischen Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg als auch mit dem deutsch-deutschen Umgang mit dem nordeuropäischen NS-Erbe.
Den Anfang machen fünf Aufsätze zur Vergangenheitspolitik, an denen sich bereits die Weite des Forschungsfeldes abzeichnet. In seinem Beitrag zur bundesdeutschen Nachkriegsdiplomatie geht Robert Bohn über "klassische" Aspekte wie Entschädigungszahlungen oder Sicherheitspolitik hinaus und begreift auch Handelsbeziehungen oder Diskussionen um den Minderheitenschutz als Faktoren für Vergangenheitspolitik. Für die DDR nimmt Michael F. Scholz die Auslandspropaganda in den Blick. Im Dienste einer antifaschistischen Imagepolitik und eines "negativen nation brandings" (55) der Bundesrepublik nahm sie u. a. Einfluss auf schwedische Journalisten und Historiker. Neuere transnationale Bezüge untersucht Alexander Muschik. An den "Holocaust"-Konferenzen der letzten Jahre zeichnet er eine Internationalisierung der Vergangenheitspolitik nach und macht so ihre Instrumentalisierung für außenpolitische Ziele sichtbar, wenn z. B. Schwedens Bild als "moralische Großmacht" (57) gefördert werden soll. Im Gegensatz zum neutralen Schweden hatte der Krieg in Dänemark und Finnland schwerwiegendere Folgen. Das erklärt den Bedarf an konsensstiftenden Erinnerungen, wie sie Nils Arne Sørensen und Seppo Hentilä analysieren. Insofern ist am dänischen Fall weniger die Beliebtheit des "offical narratives" (71) von der geeinten Nation bemerkenswert, es sind die Konjunkturen des Widerstands-Motivs bis in das Jahr 2003, in dem der militärische Widerstand als Argument für die dänische Teilnahme am Irakkrieg diente. In Finnland wiederum war nach 1945 die Beteiligung am Krieg auf der Seite der Deutschen ein Problem, für das Politiker und Historiker die entlastende "Treibholz-Theorie" (er)fanden, nach der man durch "unglückliche Umstände [...] völlig machtlos" (85) in den Krieg gezogen worden sei.
Bereits diese fünf Beiträge weisen auf ein wichtiges Ergebnis des Bandes hin: Vergangenheitspolitik und "Historiographische Deutungen", die den Schwerpunkt des zweiten Kapitels bilden, sind beim Zweiten Weltkrieg kaum zu trennen. Im Falle Norwegens findet Einhart Lorenz folglich Ursachen für problematische Erinnerungsmuster nach 1945 in traditionellen antisemitischen Stereotypen. Christoph Cornelißen muss für seinen Beitrag zur "Weserübung" in der deutschen Geschichtsschreibung weniger weit zurück blicken. In biografischen Skizzen von Historikern und Publizisten problematisiert er deren Wirken im "Dritten Reich", mit der sich entlastende Selbstbilder wie die Präventivschlagthese oder "mythische Überhöhungen" (142) der Wehrmacht bis in die 60er Jahre erklären. Palle Roslyng-Jensens Untersuchung zu Dänemark kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie Sørensen, geht jedoch insofern darüber hinaus, weil er Forschungen zur Kollaboration in Frankreich auf Dänemark bezieht und so eine neue Vergleichsebene einführt. Wichtig ist zudem sein Hinweis auf den Zusammenhang zwischen wissenschaftlichen "discourses and political power struggle" (138), gibt dieser doch Aufschluss über Wege der Forschung. Auch vor diesem Hintergrund ist der Befund von Rolf Hobson verblüffend. Denn während Hobson für die norwegische Öffentlichkeit ein "spürbares Interesse" (101) am Zweiten Weltkrieg konstatiert, seien Historiker eher zurückhaltend. Sein Fazit bietet hierfür zwar keine Erklärung, allerdings eine ausführliche Agenda, was in Zukunft zu tun sei. Bernd Wegner erweitert Hentiläs Befunde zur finnischen Vergangenheitspolitik, weil er die Deutungen aller drei finnischen Konflikte (vom Winter-, über den "Fortsetzungs"- bis zum Lappland-Krieg) in den Blick nimmt. Außerdem bezieht Wegner den (außen-)politischen Kontext auf den Forschungsgang, mit dem sich die " breite Ausdifferenzierung" (166) seit 1989 erkläre. Auch in der Außenpolitik finden wir also Hinweise, warum Geschichtspolitik und -wissenschaft schwer zu trennen sind.
Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass in Dänemark und Norwegen lange Zeit nur der Widerstand in die Museen fand. Henrik Skov Kristensen widmet sich in seinem Beitrag zu dänischen Gedenkstätten daher einer zweiten Welle der Musealisierung seit den 70er Jahren, die sich im "Frøslev Camp Museum" abzeichnet und die Raum für (selbst)kritischere Erinnerungen bietet. In Norwegen behielt das Widerstandsmuseum hingegen bis in die 90er Jahre eine Monopolstellung. Selbst die großen Lager Grini und Falstad blieben jahrzehntelang "lost landscapes", was Jon Reitand auf ein "national syndrom of consensus" (191) zurückführt. Spannend wäre hierzu eine Replik von Ivar Kraglund gewesen, dem Direktor des Widerstandsmuseums in Oslo, dessen Beitrag auf knapp vier Seiten indes kaum ausführlicher auf entsprechende Entwicklungen eingehen kann. Mogens R. Nissen schließlich präsentiert eine Ausstellung neuen Typs, das "Virtuelle Museum" zur Region Süddänemark/Schleswig-Holstein (www.vimu.info). Dabei geht er auch auf methodische und inhaltliche Aspekte des deutsch-dänischen Projektes ein, hält sich aber zu Fragen der internationalen Kooperation zurück. Das ist zwar ebenso höflich wie nachvollziehbar, doch insofern schade, weil Nissen hier die erinnerungskulturellen Verwicklungen der Forscher zum Thema hätte machen können.
Den letzten Abschnitt zu "medialen Repräsentationen" eröffnet Ruth Sindt mit ihrer Mikrostudie zum Städtchen Kirkenes in Nordnorwegen. Anhand von Interviews kann sie nachweisen, dass sich nach 1945 gemeinschaftsstiftende "Erinnerungsmuster" ausgeprägt haben, die von Einwohnern als eigene Erzählungen übernommen wurden, selbst wenn deren persönliche Erfahrung vom kollektiven Gedächtnis abwich. Vom kommunikativen Gedächtnis führt Heiko Uecker zur Nachkriegsliteratur in Norwegen. Sein Ergebnis, "dass der Feind eine so geringe Bedeutung in der Literatur" (233) hat, ist nicht nur überraschend, es wird auch überzeugend auf persönliche und politische Hintergründe der Autoren zurückgeführt. Ob jedoch das Trauma-Konzept für diese Analyse besonders geeignet ist, wie Uecker vorschlägt, bleibt fraglich. Zumindest hätte man diese These auf aktuelle Debatten zum Nutzen und Nachteil des Trauma-Konzepts beziehen können. Martin Moll beschäftigt sich anschließend mit skandinavischen Spielfilmen und deren Einfluss auf die "Erzeugung nationaler Mythen" (256). Weiterführend ist hierzu seine Beobachtung, dass die Darstellung in Filmen nicht zuletzt von staatlicher Subventionspolitik beeinflusst sei. Erinnerungskulturen, das wäre ein weiteres Ergebnis, sind also nicht zuletzt eine Frage der Finanzen.
Am Ende des Bandes bietet Karl Christian Lammers einen Gesamtüberblick zum "Bild des neuen Deutschland" in Skandinavien. Wie stark die skandinavische Wahrnehmung von der deutschen "Vergangenheitsbewältigung" geprägt wurde, fasst Lammers treffend an einem Bonmot des dänischen Außenministers zusammen. Nach den Diskussionen um Hans Globke und Hans Speidel sprach Per Haekkerup von drei außenpolitischen Problemen Dänemarks: "Deutschland, Deutschland und nochmals Deutschland" (268). Es war eine allmähliche Annäherung zwischen Skandinavien und der Bundesrepublik, da sich das Deutschlandbild der nordeuropäischen Länder lange am erinnerungskulturellen Koordinatensystem orientierte, wie Lammers zeigt.
Mit diesem Fazit schließt sich der Kreis, knüpft Lammers doch an den ersten Beitrag von Bohn an. Nordeuropa, das zeigt der Band eindrucksvoll, ist nicht nur ein neues Forschungsfeld, sondern eines, an dem sich neue erinnerungskulturelle Phänomene studieren lassen. Gerade weil dieses Gesamtkonzept hervorragend aufgeht, hätte man sich gelegentlich engere Bezüge zwischen einigen Beiträgen sowie einen Schlussteil gewünscht, der all diese Fäden zu einem Band zusammenfügt und mit einem Blick auf Forschungen zu West- und Osteuropa einordnet, um eine wahrhaft "international vergleichende Bestandsaufnahme" (11) zu leisten. Diese Anmerkung schmälert den Ertrag des Bandes indes um kein Gramm. Das Buch ist eine wichtige Pionierstudie, die ein neues Forschungsfeld erschließt und daher sehr viel mehr als "erste Anstöße" (19) bietet: eine Fülle fundierter Beiträge, auf der zukünftige Arbeiten zum nordeuropäischen Gedächtnis aufbauen werden.
Malte Thießen