Ellen G. Landau / Claude Cernuschi (eds.): Pollock Matters, Chicago: University of Chicago Press 2007, 178 S., ISBN 978-1-892-85013-3, USD 55,00
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Zwei eng verwobene Themenkomplexe stehen im Zentrum des Ausstellungskataloges Pollock Matters: einerseits die Freundschaft zwischen Jackson Pollock (1912-1956) und dem Schweizer Fotografen und Grafiker Herbert Matter (1907-1984); andererseits die Autorschaft von über 30 Drip Paintings, die der Filmemacher Alex Matter im Jahr 2002 im Nachlass seines Vaters entdeckt hat. Deren Beschriftung - etwa "Pollock (1946-49)" und "32 Jackson experimental Works (gift + purchase)" - verhieß einen sensationellen Fund. Man zog die Pollock-Spezialistin Ellen G. Landau zurate, die sofort von der Echtheit der Werke überzeugt war. Als die Entdeckung 2005 publik gemacht wurde, meldeten sich Skeptiker zu Wort - zu Recht: So war ein Teil der Farben erst nach Pollocks Tod in den USA erhältlich. Die geplante Ausstellung wurde schließlich nach Verschiebungen und Konzeptänderungen im September 2007 im McMullen Museum of Arts am Boston College eröffnet. Über 150 Exponate dokumentierten die fruchtbare Künstlerfreundschaft. Darunter waren auch 24 der umstrittenen Werke, bei denen das Kuratorenteam um die Pollock-Experten Ellen G. Landau und Claude Cernuschi wohlweislich auf Zuschreibungen verzichtete.
Angesichts der ungeklärten Identität der Fundstücke kommen Landau und Cernuschi nicht umhin, den von ihnen herausgegebenen Katalog als eine Art Zwischenbericht zu präsentieren (vgl. 7). Da mit den Matter-Bildern bislang vernachlässigte Aspekte in Pollocks Leben und Œuvre ins Licht gerückt sind, verstehen sie sich selbstbewusst als Initiatoren einer "new scholarship" (8).
Im umfangreichsten Beitrag will Landau eingangs nicht nur die tiefe Freundschaft zwischen Pollock und Matter nachweisen, sondern sie präsentiert die experimentellen Fotografien des Schweizers als Impulsgeber für maßgebliche Werke des Amerikaners. So könnten stroboskopische Bewegungsstudien, die den Chronofotografien Étienne-Jules Mareys ähnlich sind, die rhythmische Reihung figurenartiger Formen in Pollocks erstem Hauptwerk Mural (1943) angeregt haben; ferner erinnern solarisierte Treibholzaufnahmen von 1940 frappierend an die irritierenden Figur-Grund-Verhältnisse in Gemälden wie Totem Lesson 2 (1945); und die Fotografien von Tinte in Glycerin scheinen neben den gedrippten Pollock-Bildern um 1943 auch Hans Hofmann inspiriert zu haben. Mit zahlreichen Vergleichen versucht Landau ihre Hypothese zu erhärten, dass diese Masse an Koinzidenzen kein Zufall sein kann. Den letzten Beweis bleibt sie jedoch trotz des hohen Materialaufwandes schuldig.
In einem zweiten Schritt leitet Landau die formalen Übereinstimmungen von gemeinsamen ästhetischen Vorlieben ab: "In any case, Herbert's personal notes on the close connection between rhythm and bodily feeling [...] indicate definitely that he and Pollock had similar thoughts on the subject, as Pollock so famously put it, of 'energy and motion made visible'" (25). Nach ihrer Ansicht können Pollocks markanteste Äußerungen sogar "be directly connected to Matter's artistic philosophy" (26). Der Erkenntnisgewinn dieser Argumentation ist nicht immer einsichtig. Landau will Matter neben Thomas Hart Benton, Pablo Picasso und David Alfaro Siqueiros als vierten, vermutlich sogar zentralen Einflussfaktor auf Pollock etablieren, als ob sich seine bahnbrechenden Werke alleine durch Matters künstlerische 'Einflüsterungen' erklären ließen.
Daran anknüpfend, zielt Jonathan D. Katz darauf ab, Pollock im Kontext der seinerzeit verbreiteten vitalistischen Tradition zu verorten. Er vertritt - wie zuvor Landau - die Meinung, Matters "photographs and photograms clearly helped make Pollock Pollock" (69). Das markiere eine signifikante Abkehr von der für das Werk der frühen 1940er-Jahre so wichtigen Jung'schen Psychoanalyse: "Indeed, it is even possible that Pollock first developed his signature drip techniques as a means of signifying, or even envisaging, vitalist ideals of non-material energy forces [...]" (64). Die vitalistische "notion of an interrelated, dependent web of life" (65) befähigt Katz, Pollocks Werk gleich auf drei Ebenen zu erklären: die Technik des Dripping; die ikonografischen Aspekte formaler Eigentümlichkeiten, vor allem die spannungsvollen Figur-Grund-Relationen und All-Over-Gespinste; sowie die Vermittlung einer umfassenden Dynamik durch die evokative Rhythmik seiner Drip Paintings, mit der es ihm gelungen sei, den letztlich illustrativen Ansatz des Fotografen um 1949 hinter sich zu lassen (vgl. 68-69). Auf diese Weise füllt Katz die Lücke, die Landau mit ihrem fragwürdig verabsolutierten Einflussbegriff hinterlassen hat.
Cernuschi und der Physikprofessor Andrzej Herczynski stützen sich im dritten Beitrag auf ein bemerkenswertes Fazit von Jeffrey Wechsler, demzufolge "Pollock was essentially a painter of small pictures" (74). Zu Recht attackieren sie eines der beharrlichsten Pollock-Klischees, denn die riesigen Leinwände, an denen sein Werk häufig so vereinseitigend gemessen wird, stellen in der Tat eine Ausnahme dar. Infolgedessen können sie nachweisen, dass die geringen Maße der Matter-Fundstücke kein Argument gegen Pollocks Autorschaft liefern. Das Hauptanliegen Cernuschis und Herczynskis ist allerdings ein weiterer Dauerbrenner der Pollock-Forschung: die vielerorts vertretene Annahme der potenziellen Unbegrenztheit der All-Over-Drippings. Plausibel zeigen sie auf, dass die Dimensionen von Pollocks Leinwänden durch Unter- und Obergrenzen definiert sind, jenseits derer sie sich sowohl der physischen als auch der kognitiven Handhabbarkeit entzögen. Nur innerhalb dieser "comfort zone" (84) sei Pollocks Intention, die Vermittlung von "Natürlichkeit" ("naturalness", vgl. 77), gewährleistet. Diese Interpretation ist mit Katz' vitalistischem Ansatz auffallend kompatibel, doch in ihrem Kern keinesfalls neu. Cernuschi knüpft nämlich an seine eigene ikonografische Deutung aus dem Jahr 1992 an, die besagt, dass Pollock mit seinen Bildern und seiner Technik eine "evocation of nature as a unification of the self with nature" angestrebt habe. [1] Aber damit nicht genug: In ihrem anschließenden Text über die Authentifizierungsmöglichkeiten von Pollock-Werken mit Hilfe der Fraktalgeometrie versuchen Cernuschi und Herczynski, sekundiert von David Martin, diesen Deutungsansatz noch weiter zu zementieren. Dabei halten sie dem Physiker Richard Taylor, der die Echtheit der Matter-Bilder mit wenig differenzierten Fraktalanalysen anzweifelte, durchaus überzeugend eine verfeinerte Methode entgegen. Sie gestehen zwar ein, dass damit kein Echtheitsbeweis erbracht werden kann, exponieren aber den Nutzen ihres Verfahrens als Interpretationshilfe - ihre Analysen von echten Pollock-Bildern weisen nämlich Muster auf, die man vornehmlich in der Natur, etwa bei Bäumen vorfinde. Unisono mit den Erläuterungen zu den Leinwandgrößen diagnostizieren sie demnach, dass "apparent affinities to natural phenomena align, compellingly, with the artist's own way of constructing meaning" (101).
Die zweite Hälfte der Katalogtexte konzentriert sich auf konservatorische Aspekte, um die Möglichkeiten naturwissenschaftlicher Authentifizierungsmethoden speziell im Hinblick auf die Matter-Bilder kritisch zu erörtern. Die Analysen und Schaubilder sind vornehmlich für ein Spezialpublikum verständlich, dürften aber eine gute Ausgangsbasis für weitere Forschungen bereit stellen. Insgesamt vermitteln sie die Grundzüge konservatorischer Arbeit für Laien sympathisch anschaulich. Dem folgt ein sehr informativer Anhang über den Erhaltungszustand von 20 Matter-Gemälden. Ein zweiter Anhang enthält eine ausführliche Chronologie der Beziehung zwischen Pollock und Matter.
Die Bemühung der Herausgeber von Pollock Matters um Homogenität ist offensichtlich. Besonders hervorzuheben ist der hohe Reflexionsgrad der Konservatoren, denen die Grenzen ihrer naturwissenschaftlichen Methoden nur allzu bewusst sind. Zwiespältiger erscheint dagegen die Gesamtkonzeption und insbesondere die bisweilen etwas zu harmonisch wirkende Argumentation von Landau, Katz, Cernuschi, Herczynski und Martin. Zwischen den Zeilen ist herauszulesen, dass vor allem Landau weiterhin an die Echtheit der Matter-Bilder glaubt. Ob die Konservatoren wohl deshalb trotz zahlreicher negativer Indizien die Option von Pollocks Autorschaft so weit wie möglich aufrecht erhalten? Dennoch existieren Anzeichen einer grundlegenden Verunsicherung: Warum sind zum Beispiel die Abbildungen der Fundstücke so klein geraten, als ob sie eine Nebensache wären?
Das neue Material und die Diskussion um die Bilder können die Pollock-Forschung zweifelsohne beleben. Allerdings muss sich die von Landau etwas zu oft betonte Relevanz ihrer Ergebnisse erst noch erweisen. Gerade der ikonografische Deutungsansatz der Drip Paintings als Visualisierungen von Vitalismus und "naturalness" widerspricht dem Anspruch auf Innovation, denn die Assoziation der Pollock-Bilder mit Natur ist nicht nur relativ alt - sie reicht weit hinter Cernuschis Monografie zurück -, sondern grenzt aufgrund ihrer Vagheit ans Beliebige. Nicht weniger problematisch ist der Umstand, dass die - wenngleich vorsichtige - Umdeutung der Drippings in visuelle Evokationen von Natur und Landschaft deren Brisanz raubt, die ja gerade in der radikalen Verweigerung von Gegenständlichkeit begründet liegt.
Was leistet der 'Zwischenbericht' also? Neben Aaron Siskind scheint mit Herbert Matter ein weiterer innovativer, für den Abstrakten Expressionismus inspirierender Fotograf entdeckt worden zu sein. [2] Weitaus wichtiger sind die fundierten Einsprüche gegen vielfach rezitierte Pollock-Klischees: So akzentuieren die meisten Beiträge des Kataloges mit Nachdruck die technische Vielfalt von Pollocks Œuvre - ein 'rappel à l'ordre', der hoffentlich dabei hilft, jenseits der wenigen großen Drippings von 1950 den Experimentator Pollock (wieder) zu entdecken, der seine bedeutendsten künstlerischen Errungenschaften permanent hinterfragt hat. Aus dieser Perspektive wäre es fast wünschenswert, wenn die ungewöhnlichen Bilder aus dem Besitz von Herbert Matter letztlich doch Werke Jackson Pollocks wären.
Anmerkungen:
[1] Claude Cernuschi: Jackson Pollock. Meaning and Significance, New York 1992, 140.
[2] Vgl. Gabriele Bickendorf: Franz Kline, 'Siskind' (1958) - Abstrakte Malerei und Fotografie im Dialog, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter 3 (2001), 51-60.
Ralf Michael Fischer