Rezension über:

Melanie Arndt: Gesundheitspolitik im geteilten Berlin 1948 bis 1961 (= Zeithistorische Studien; Bd. 43), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, 281 S., ISBN 978-3-412-20308-5, EUR 34,90
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Rezension von:
Frank Roggenbuch
Eggersdorf
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Frank Roggenbuch: Rezension von: Melanie Arndt: Gesundheitspolitik im geteilten Berlin 1948 bis 1961, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 1 [15.01.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/01/16056.html


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Melanie Arndt: Gesundheitspolitik im geteilten Berlin 1948 bis 1961

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Ein Aspekt der deutschen Teilung war die Divergenz der Gesundheitspolitik. Im geteilten Berlin vollzog sich dieser Prozess unter Sonderbedingungen: Ermöglicht durch den Viermächtestatus und die bis 1961 offenen Sektorengrenzen, blieb die Verflechtung Gesamtberlins auch nach der Spaltung 1948/49 noch weitgehend erhalten. In dieser Sphäre der Systemoffenheit wurden die Teilstädte zu "Schaufenstern" (14) der Systemkonkurrenz. Die Gesundheitspolitik spielte da natürlich eine große Rolle.

Mit dieser "Schaufensterkonkurrenz" beschäftigt sich Melanie Arndt in ihrer anhand von Archivmaterialien, Zeitungen sowie Zeitzeugenbefragungen erarbeiteten Dissertation. Damit füllt sie eine Forschungslücke. Ihr erklärtes Ziel ist es, "Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den gesundheitspolitischen Vorstellungen, Zielen und Konzepten sowie deren Umsetzung in Ost- und West-Berlin vergleichend herauszuarbeiten." (15) Dabei betont die Autorin nicht nur trennende, sondern auch verbindende Aspekte und Elemente der Berliner Systemkonkurrenz.

Im ersten Kapitel geht es um Bestandsaufnahme und Hinführung: Mit Traditionslinien wie Sozialversicherung und Sozialgesetzgebung seit Bismarck, Sozialhygiene und Gesundheitsvorsorge seit der Weimarer Republik sowie Organisation der Ärzte in Hartmannbund und Kassenärztlichen Vereinigungen werden die zu verfolgenden Entwicklungsstränge vorgegeben. Dies und die Abkehr von Irrwegen wie der NS-Rassehygiene konstituieren die "Pfadabhängigkeit" (31) der Nachkriegsentwicklung. Die Divergenzen begannen früh: Während die Westmächte die Gesundheitspolitik schon 1946 an deutsche Stellen übertrugen, hielt die SMAD noch bis zur Gründung der DDR an ihrer Entscheidungskompetenz fest. Unterschiedlich gestaltete sich auch die Entnazifizierung: Trotz des Mangels an politisch unbelasteten Ärzten ging man Arndt zufolge im Osten "vergleichsweise gründlicher" (53) vor. Zu einem Kristallisationskern der Ost-West-Diskrepanz wurde das Spannungsverhältnis von staatlicher Reglementierung bzw. gesetzlicher Krankenversicherung einerseits und freiberuflich-unternehmerischem Arzttum andererseits. Im Osten knüpfte man an die Weimarer Reformbestrebungen an und betrieb Verstaatlichung und Zentralisierung nach sowjetischen Maßgaben. Der Westen forcierte die privatwirtschaftliche Ausrichtung und Dezentralisierung seines Gesundheitswesens.

Das zentrale zweite Kapitel geht den Verhältnissen während der Teilung nach. Während die Nachkriegslage zu "Rückschlägen im gesundheitlichen Fortschritt" führte (66), begannen die Kräfte der Systemkonkurrenz, "Krankheit" zu instrumentalisieren. So wurde etwa der Westen verdächtigt, Grippeerreger über die Luftbrücke einzuschleppen. Signifikant für das Auseinanderdriften war die Spaltung der Gesamtberliner Einheitsversicherung VAB: Dem Aufgehen der VAB (Ost) im FDGB stellte der Westen die Entflechtung der VAB (West) entgegen. Hier beginnend analysiert Arndt - zwischen Hauptstadtanspruch und Westintegration - sehr genau die Wechselwirkungen mit den Besatzungsmächten und den Parteien. Das Spektrum der Akteure wird genauso erhellt wie der Umfang von Sowjetisierung und Amerikanisierung und schließlich auch die Identitäten und Rollen deutscher Stellen (Magistratsabteilung, Senatoren für Gesundheit und Soziales usw.). Die komplexe Spaltungsrealität zeigt etwa das Blutspendewesen: Während Ostberliner im Westen für Westgeld spendeten und in Ostberlin Spenderblutmangel herrschte, wurden Westberliner Spender im Osten abgewiesen, weil die hiermit verbundene Vergabe von Zusatzlebensmittelkarten die Deckung des Ernährungsbedarfs belastete. Ein verbindendes Element war das Grenzgängerwesen, insbesondere die Beschäftigung von Westärzten in Ostberlin.

Im dritten Kapitel differenziert Arndt das Thema an drei ausgewählten Feldern weiter aus. Zunächst geht es um die ambulante Versorgung. In der DDR und Ostberlin, wo Prävention im Mittelpunkt stand, wurde ärztliche Tätigkeit schwerpunktmäßig in staatlichen Einrichtungen (Polikliniken, Ambulatorien) auf betrieblicher oder kommunaler Ebene gebündelt. In Westberlin setzte sich im Zuge der Westintegration die "starke Position der niedergelassenen Ärzte in der Bundesrepublik"(148) durch. Da "prophylaktische Maßnahmen in der privaten Arztpraxis schwer zu realisieren" (148ff.) sind, ging dies mit einer Vernachlässigung der ambulanten Gesundheitsvorsorge einher. Das 1948 noch vom Gesamtberliner Magistrat ins Leben gerufene Poliklinikwesen wurde nun als "typisch sozialistische Idee diffamiert" (149) und sukzessive zurückgefahren. Weiter geht es um die Westabwanderung von Ostärzten sowie um Motive und Versuche, diese zu unterbinden. Zwar ließ die SED nichts unversucht, um Mediziner mit Einzelgehältern und anderen Vergünstigungen zu umwerben; ein wirkliches Konzept wurde aber nie gefunden. Eine von der Ostpresse unterstellte organisierte Abwerbung gab es nicht; Hauptfaktor der Republikflucht war das "werbende Schaufenster" Westberlin (251). Abschließend analysiert Arndt sehr überzeugend die "Medikamentenhilfe von West für Ost" (199ff.). Der ostseitige Mangel an Arzneien und Impfstoffen für Prophylaxe und Therapie war erheblich. Er konterkarierte die östliche Propaganda vom angeblich besseren Gesundheitswesen. Im Zeichen des Wandels "von der Unabweisbarkeit zur Großzügigkeit" (210) nutzte der Westen die Chance, aus der kostenlosen Behandlung von Ostpatienten und vor allem deren Versorgung mit Medikamenten und Medizintechnik politisches Kapital zu schlagen: "Im Wettbewerb um das verlockendere Schaufenster war auf der Ebene der Patienten West-Berlin der klare Sieger." (246)

Im Resümee verweist Arndt darauf, dass Berlin Freiräume hatte, "die es in den Bezugsstaaten DDR und Bundesrepublik bereits nicht mehr gab." Nutznießer der "Schaufensterkonkurrenz" waren "die Patienten in Ost- und Westberlin, weil sie mit etwas Geschick zwischen den Angeboten der beiden Gesundheitssysteme auswählen konnten." (253) Fragestellung und Ansatz von Arndts Studie sind ausgesprochen interessant; der Anschluss an den Forschungsstand ist der Autorin ebenfalls gelungen. Ihre Darstellung ist gut strukturiert, gedanklich präzise und bewegt sich sprachlich auf hohem Niveau. Sehr hilfreich für das Gesamtverständnis sind die Kapitelzusammenfassungen. Sachliche Fehler sind sehr selten und nachrangig (etwa 67: Westmagistrat statt Senat 1952). Arndts Studie erklärt viel: Begriffe, Sachverhalte und Personen. Das ist erfreulich, denn es erleichtert das Verständnis des schwierigen Themas. Zum Teil wäre weniger mehr gewesen. So hätte man auf ein Unterkapitel zum Büro für Gesamtberliner Fragen (99ff.) ebenso verzichten können wie auf allgemein gehaltene Kurzbiografien etwa zu Wilhelmine Schirmer-Pröscher (89ff.) oder Herbert Fechner (93ff.). Dennoch hat Melanie Arndt mit ihrer Arbeit eine respektable Leistung erbracht. Ihr gebührt das Verdienst, einen wichtigen Beitrag zu der von ihr selbst geforderten "differenzierteren Sichtweise des Kalten Krieges"(16) geleistet zu haben.

Frank Roggenbuch