Marlene Klatt: Unbequeme Vergangenheit. Antisemitismus, Judenverfolgung und Wiedergutmachung in Westfalen 1925-1965 (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 61), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2009, X + 508 S., ISBN 978-3-506-76594-9, EUR 49,90
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Wer die Konzeption von Buchreihen zur deutschen Geschichte betrachtet, muss feststellen, dass die Darstellung in der Regel entlang politischer Epochengrenzen erfolgt. Ob diese Einteilungen auch in der Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte Gültigkeit haben, ist Gegenstand eines umfangreichen Forschungsprojektes, das seit 1991 am Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster angesiedelt ist und von dessen Träger, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, gefördert wird. Die hier vorgelegte Studie von Marlene Klatt, bei der es sich um die überarbeitete und leicht gekürzte Fassung ihrer Dissertation handelt, schließt an die bisherigen Studien zu diesem Projekt an, bei dem gesellschaftliche Modernisierungsprozesse in Westfalen zwischen 1930 und 1960 analysiert werden. [1]
Ausgehend von der Feststellung, dass die Forschung den Komplex "Wiedergutmachung" bisher hauptsächlich unter quantitativen Gesichtspunkten bewertet hat, plädiert Klatt für einen Perspektivwechsel: "Die Wirkungs- und Nachwirkungs- sowie die Erfahrungsgeschichte der Wiedergutmachung in der deutschen Nachkriegsgesellschaft liegen [...] noch weitgehend im Dunkeln." (3) Grundlage ihrer Untersuchung ist die Frage nach dem Stellenwert der Wiedergutmachung für jüdische Verfolgte in der Nachkriegszeit. Ziel ist es, die "Interaktion zwischen den jeweiligen politischen Machthabern und der lokalen Gesellschaft in Bezug auf Antisemitismus, Judenverfolgung und Wiedergutmachung über die politischen Zäsuren 1933 und 1945 hinaus" (7) zu analysieren. Um einen möglichst ertragreichen methodischen Ansatz zu gewährleisten, ist die Arbeit als komparative Regionalstudie konzipiert worden. Dafür wurden drei westfälische Kommunen mit unterschiedlichen Strukturmerkmalen als Untersuchungsgemeinden ausgewählt: 1) Hagen, eine industriell geprägte Großstadt im südöstlichen Ruhrgebiet mit vornehmlich protestantischer Bevölkerung, 2) Arnsberg, ein Verwaltungszentrum im Hochsauerland mit ca. 12000 überwiegend katholischen Bewohnern (1933) und 3) Niedermarsberg, eine strukturschwache Kleinstadt im östlichen Sauerland mit einer hauptsächlich katholischen Einwohnerschaft. Klatt hat für ihre Studie neben anderem Quellenmaterial eine Vielzahl an Einzelfallakten von Rückerstattungs- und Entschädigungsverfahren aus dem Staatsarchiv Münster ausgewertet, die "kein vollständiges Bild von der Verfolgungsrealität vor Ort" (16) vermitteln können, aber "deutliche Trends" (16) widerspiegeln.
Die Darstellung gliedert sich in drei große Teile: Der erste Teil beginnt mit einer Topografie der Untersuchungsgemeinden im Hinblick auf ihre politische und sozioökonomische Struktur. Danach wird der Stand der Akkulturation der jüdischen Minderheit in den letzten Jahren der Weimarer Republik rekonstruiert. Dabei wird deutlich, dass in allen drei Untersuchungsgemeinden bereits Ende der 1920er Jahre verstärkt antisemitische Propaganda feststellbar ist. Im zweiten Teil steht der soziale und wirtschaftliche Verdrängungsprozess der jüdischen Minderheit im Mittelpunkt der Betrachtung. Bei dem komplexen Vorgang der "Arisierung", der bis 1938 keiner zentralen Regelung unterlag, werden die verschiedenen Phasen herausgearbeitet und die maßgeblichen Akteure in den Blick genommen. Klatt kommt dabei zu ähnlichen Ergebnissen wie Frank Bajohr in seiner beeindruckenden Studie über die "Arisierung" in Hamburg. [2] In Hagen, Arnsberg und Niedermarsberg führte man die wirtschaftliche Ausschaltung der jüdischen Minderheit öffentlich und unter aktiver Mitwirkung einer großen Zahl von Beteiligten durch, die auf unterschiedliche Weise in den Prozess der "Arisierung" involviert waren. Diese konnte sich dabei gerade im lokalen Raum auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens innerhalb der nichtjüdischen Bevölkerung stützen. Die Bedingungen für die "Arisierung" wurden zwar von regionalen und lokalen Parteiinstanzen und ab 1938 durch staatliche Vorgaben bestimmt. Die Aussicht, günstig ein Unternehmen oder eine Immobilie erwerben zu können, und dadurch den sozialen Aufstieg zu vollziehen, hatte jedoch in vielen Fällen zur Folge, dass moralische Bedenken zugunsten des persönlichen Vorteils fallen gelassen wurden. Durch die "systemimmanente Duldung und Förderung der individuellen Bereicherung bei der Aneignung jüdischen Vermögens" (228) wurde das nationalsozialistische Unrechtsregime zudem stabilisiert. Klatt versteht ihre Ergebnisse deshalb auch als Bestätigung der These Götz Alys von der "Gefälligkeitsdiktatur". [3]
Im dritten Teil der Untersuchung rückt die frühe Nachkriegszeit in den Fokus. Klatt zeichnet eindrucksvoll das Schicksal der wenigen deutschen Juden nach, die Verfolgung und Deportation überlebt hatten und völlig mittellos in ihre Heimatgemeinden in Westfalen zurückkehrten. Im Gegensatz zur großen Gruppe der "Displaced Persons" hatten die jüdischen Verfolgten deutscher Herkunft unter der Tatsache zu leiden, dass sie - selbst für die britische Besatzungsmacht - als vernachlässigbare Minderheit galten. Ihre Lebenssituation war auch Monate nach Kriegsende noch äußerst prekär und zwang sie, gegenüber den kommunalen Verwaltungsbehörden als Bittsteller aufzutreten. Bei ihren Versuchen, die "Arisierung" von Geschäften und Immobilien rückgängig zu machen, trafen die jüdischen Verfolgten in allen drei Kommunen nicht nur auf die ehemaligen "Ariseure", sondern oft auch auf ein "Netzwerk von Nutznießern" (339), die als Makler, Notare oder Gutachter bereits an der "Arisierung" beteiligt gewesen waren. Durch das erneute Zusammenwirken dieses "Arisierungsmilieus" (339) bei der Wiedergutmachung entwickelte sich auch die Restitution für die nichtjüdischen Beteiligten zu einem profitablen Geschäft. Die jüdischen Antragsteller konnten zudem kein Verständnis für ihren Anspruch auf Wiedergutmachung erwarten. Die meisten "Rückerstattungspflichtigen" bestritten, von der "Arisierung" profitiert zu haben und stellten den Zustand des "Arisierungsobjektes" zur Zeit des Kaufs als minderwertig dar, um den niedrigen Kaufpreis zu rechtfertigen. Sie begegneten der persönlichen Situation der jüdischen Vorbesitzer mit Gleichgültigkeit und stilisierten sich selbst zu Opfern, die unter der Rückerstattungsgesetzgebung zu leiden hätten. Eine bedeutende Rolle dürfte dabei - neben fortbestehenden antisemitischen Einstellungen - das Motiv gespielt haben, den durch die "Arisierung" erworbenen Besitz und den damit verbundenen gesellschaftlichen Prestigegewinn zu verteidigen. Solche Fälle von "Verhaltenskontinuitäten" (340) waren in allen Untersuchungsgemeinden festzustellen. Die Darstellung von Klatt schließt mit einem Blick auf die örtliche Erinnerungskultur in den drei untersuchten Kommunen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es sich bei der Untersuchung von Marlene Klatt um einen wichtigen Beitrag zur Wiedergutmachung auf lokaler Ebene handelt. Überzeugend wird aufgezeigt, dass die Restitution der jüdischen NS-Opfer für die deutsche Nachkriegsgesellschaft so gut wie keinen Stellenwert besaß.
Anmerkungen:
[1] Zu dem Projekt vgl. Matthias Frese u.a.: Gesellschaft in Westfalen. Kontinuität und Wandel 1930-1960, in: Westfälische Forschungen 41 (1991), 444-467.
[2] Frank Bajohr: "Arisierung" in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933-1945, Hamburg 1997.
[3] Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M. 2005.
Michaela Bachem-Rehm