Michael Blömer / Margherita Facella / Engelbert Winter (Hgg.): Lokale Identität im Römischen Nahen Osten. Kontexte und Perspektiven (= Oriens et Occidens. Studien zu antiken Kulturkontakten und ihrem Nachleben; Bd. 18), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, 340 S., ISBN 978-3-515-09377-4, EUR 64,00
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Beate Dignas / Engelbert Winter: Rome and Persia in Late Antiquity. Neighbours and Rivals, Cambridge: Cambridge University Press 2007
Der vorliegende Band geht auf eine an der Universität Münster von der dort angesiedelten Asia Minor-Forschungsstelle gemeinsam mit dem Dipartimento di Scienze Storiche del Mondo Antico der Universität Pisa und dem Centrum für Geschichte und Kultur des östlichen Mittelmeerraums der Universität Münster im April 2007 veranstaltete Tagung zurück. Im Vorwort betonen die Herausgeber, dass die in der Forschung lange Zeit dominierenden Erklärungsmodelle von "Hellenisierung" bzw. "Romanisierung" im Bezug auf das Wechselspiel von lokaler Identität und dem Einfluss griechischer und römischer Kultur als nicht mehr tragfähig angesehen werden können. Vielmehr habe sich der Begriff der Identität durch seine generelle Offenheit als tauglicher und für die Beschreibung der komplexen Phänomene als angemessener erwiesen. Nachdem die Wechselwirkungen von lokaler Kultur und fremdem Einfluss insbesondere für Gesellschaften im römischen Westen untersucht worden sind, wurde in den vergangenen Jahren auch vereinzelt der Blick auf Kulturen im Osten der antiken Welt gerichtet. So habe sich mittlerweile die Erforschung von lokalen Identitäten als wichtiges Paradigma für Untersuchungen von regionalen Phänomenen im Nahen Osten bewährt, vor allem da auf diese Weise ungerechtfertigte Verallgemeinerungen historischer Vorgänge vermieden werden könnten. Die zehn Fallstudien stammen aus der archäologischen, althistorischen sowie numismatischen Forschung und spannen einen chronologisch breiten Rahmen, der etwa vom 3. vor- bis zum 4. nachchristlichen Jahrhundert reicht.
Im ersten Beitrag stellt M. Blömer, ausgehend von im 19. Jahrhundert dokumentierten (heute allerdings verschollenen) Stelen aus einem Heiligtum nahe des südosttürkischen Dorfes Ceylanlı, verschiedene Bilder lokaler Wettergottheiten vor. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf Iupiter Dolichenus. Die Verehrung dieses Gottes hatte ihren Ursprung in der nahe dem Euphrat gelegenen Stadt Doliche. Mit der Eingliederung der Region in das Römische Imperium als Provinz Syria im 1. Jahrhundert v. Chr. hielt der Gott von Doliche Einzug in den römischen Götterhimmel und entwickelte sich fortan zu einem insbesondere bei Soldaten sehr beliebten Kult. Blömers Analyse umfasst weitere Reliefs mit Darstellungen von Wettergottheiten, die mit Blitzbündel und Doppelaxt auf einem Stier stehend gezeigt werden, die aber nicht zwingend mit dem Gott von Doliche identifiziert werden müssten, da diese Darstellungsform offen und unspezifisch gewesen sei. Vielmehr zeigten sich lokale Ausprägungen einer über einen langen Zeitraum in Nordsyrien existierenden Ikonographie. Blömer geht schließlich noch auf einen Neufund ein, der bei Ausgrabungen im Heiligtum auf dem Gipfelplateau des Dülük Baba Tepesi, in der Nähe von Gaziantep, im Jahre 2007 entdeckt worden ist. Diese Stele zeigt den Gott von Doliche mit Darstellungselementen, die zwar grundsätzlich einer römischen Ikonographie verpflichtet, in Details aber doch als Produkt einer lokalen Bildhauerwerkstatt zu beschreiben sind, die auf eine altorientalische, vorrömische Bildtradition zurückgriff.
Im Beitrag von P. W. Haider geht es ebenfalls um die Tradierung religiöser Vorstellungen über einen langen Zeitraum hinweg. Er zeigt vor allem anhand von Weihinschriften, dass in den beiden benachbarten Städten Ninive (Ninua/Ninos) und Assur das gemeinsame religiöse Erbe durch fremde Einflüsse seit der hellenistischen bzw. parthischen Zeit grundlegend unterschiedliche Entwicklungen nahm. Während in Ninive durch die neue, griechisch sprechende Elite vor allem synkretistische Züge aus traditionellen einheimischen Glaubensvorstellungen und gewissermaßen importierten Glaubensinhalten zu erkennen seien und an deren Seite auch Götter wie Tyche, Sarapis und Isis traten, seien in Assur die traditionellen Figuren des alten assyrisch-babylonischen Götterhimmels in gewandelter Form, in "parthischer" Prägung, wiederbelebt worden. Hier zeige sich hellenistischer Kultureinfluss vor allem in der Tempelarchitektur.
U. Hartmann setzt sich in seinem Beitrag mit einem in die Zeit um 260 n. Chr. zu datierenden Text auseinander. In den griechisch abgefassten Versen des 13. Sibyllinischen Orakels gibt der Autor, ein "syrischer Diaspora-Jude", seine Identität(en) als Orientale und Römer gleichermaßen zu erkennen; er steht damit im Spannungsfeld von regionaler, hier syrischer Herkunft und dem Selbstverständnis, Römer zu sein. Gerade in seinen Beschreibungen der Gefahren, welche von verschiedenen Feinden für das Römische Reich ausgegangen seien, an dessen Fortbestand der Verfasser allerdings keinerlei Zweifel hat, zeige sich seine starke Identifikation mit Rom. Doch liege der Fokus insgesamt stark auf den Ereignissen in seiner eigenen Lebenswirklichkeit, der Grenzregion zu den als barbarisch klassifizierten Persern.
Vier Tempelbauten, drei Augustea Herodes' d. Gr. sowie eines in Faqura (nördlich von Beirut) der julisch-claudischen Epoche, dienen A. Kropp als Ausgangspunkt, um über die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse von Klientelkönigen des Römischen Imperiums nachzudenken. Mit seiner Detailstudie kann er den in den vergangenen Jahren intensiv betriebenen Forschungen zum römischen Kaiserkult eine weitere Facette hinzufügen. Dabei zeigt sich, dass die von Herodes in Auftrag gegebenen Bauformen römische Vorbilder adaptieren, wohingegen der faqurische Tempelbau maßgeblich auf lokale Traditionen gestützt war.
Mit Münzbildern aus zwei phönikischen Städten befasst sich der Beitrag von A. Lichtenberger. Er legt nahe, dass sich gerade in der spezifischen Auswahl der Motive "städtische Identitäten" eine Ausdrucksform verschafft haben. Diese konnte ganz unterschiedlich ausfallen, wie hier am Beispiel von Tyros, das seine phönikischen Lokaltraditionen betonte, und Berytos (Beirut), das sich den Einflüssen durch Rom durchaus aufgeschlossen zeigte, nachgezeichnet wird. Das zumeist angespannte Verhältnis zwischen den beiden Städten, das mitunter in Rivalität und offene Feindseligkeiten umschlagen konnte, hatte ebenfalls Einfluss auf die Art und Weise, wie sie sich darstellen oder gerne selbst sehen wollten.
Das Bild, welches sich der aus Antiochia am Orontes stammende Redner Libanios über den Nahen Osten, vor allem die Provinz Syria (des 4. Jahrhunderts) machte, untersucht F. Millar. Aus dem umfangreichen Korpus der überlieferten Reden und Briefe schließt er, dass die Wahrnehmung und Beschreibungen des Libanios einer griechisch geprägten Welt wohl seine Lebenswirklichkeit abbilden. Auch wenn er sicher Syrisch verstanden habe, sei dies für ihn offenbar keine Kultursprache gewesen.
W. Oenbrink beschäftigt sich mit einem heute vollständig zerstörten Grabbau, der einst in der Nähe des mittelsyrischen Homs stand. Das wohl in der zweiten Hälfte des 1. nachchristlichen Jahrhunderts errichtete Monument für Gaius Iulius Samsigeramos zeige heterogene architektonische Formen, die lokale Traditionen aufgriffen, aber auch eine Offenheit für neue (fremde) Elemente aufzeigten, etwa in der Bautechnik. Die lokale Elite von Emesa, der Samsigeramos zweifellos zuzurechnen ist, habe auf diese Weise ihre Affinität zur römischen Kultur ausgedrückt.
Die ikonographische Gestaltung zweier reich dekorierter Sarkophage aus Palmyra, wohl aus einer Werkstatt stammend, beschäftigt A. Schmidt-Colinet. In ihnen erkennt er eine Kombination griechisch-römischer und einheimisch-orientalischer Ausdrucksformen. Die Grabinhaber drückten so ihr Selbstverständnis als Angehörige der lokalen Eliten aus und präsentierten ihren hohen sozialen Status, der auch in der Römischen Welt Geltung hatte.
M. Sommer, dessen Aufsatz vielleicht am Anfang des Bandes besser positioniert gewesen wäre, geht anhand zweier exemplarischer Grundthemen der Frage nach, wie sich die Angebote (oder Verlockungen?) des Imperium Romanum auf lokale Gesellschaften an seiner Peripherie auswirkten. Er betont, dass die damit einhergehenden kulturellen Veränderungen mit den Modellen von "Romanisierung" bzw. "Hellenisierung" nur unzureichend beschrieben werden können. Vielmehr sei es gerade die (freiwillige) Übernahme von römischer Kultur - Sommers Beispiele sind Recht und Mythen - die dazu führte, "das Leben unter römischer Herrschaft nicht nur erträglich, sondern [...] auch erstrebenswert" erscheinen zu lassen.
Noch ein zweiter Beitrag befasst sich mit der Möglichkeit, Ausdrucksformen städtischer Identität anhand von numismatischen Zeugnissen zu erfassen. O. Stoll befasst sich in seinem material- und umfangreichen Aufsatz mit der Geschichte von Resaina (nordöstliches Syrien) und Singara (Nordirak). Hier war römisches Militär stationiert, insbesondere Soldaten der "parthischen" Legionen, um entweder Vorstöße auf persisches Territorium durchzuführen oder diese Grenzregion des Römischen Reiches gegen die Perser zu verteidigen. Stoll behandelt die Prägeverläufe städtischer Bronzemünzen des 3. Jahrhunderts und kann dabei zeigen, dass die Münzbilder, insbesondere Darstellungen von Kentaur und Tyche, Aufschluss über die Selbstidentifikation oder eben "lokale Identität" ihrer Auftraggeber geben. Jene waren wohl der jeweiligen städtischen Eliten angehörig und blickten durchaus mit Stolz auf die Anwesenheit der römischen Legionen. Eindrucksvoll wird in diesem beinahe 100-seitigen Beitrag der Quellenwert von "kleinen" Münzen für die Rekonstruktion jener historischen Perioden demonstriert, für die andere Zeugnisse weitestgehend ausfallen.
Insgesamt stellt der sorgfältig gestaltete Tagungsband eine gelungene Sammlung von Fallstudien dar und bietet einen Zugang zu vielen aktuellen Forschungsfragen, die mit dem Problem der Ausbildung lokaler Identitäten im Wechselspiel mit überregionalen Fremdeinflüssen verbundenen sind. Anknüpfungspunkte und Perspektiven für zukünftige Forschungen mit dem Phänomen lokaler Identitäten im römischen Nahen Osten sind reichlich vorhanden.
Guido M. Berndt