Ulrike Heinrichs: Martin Schongauer. Maler und Kupferstecher. Kunst und Wissenschaft unter dem Primat des Sehens, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2007, 527 S., ISBN 978-3-422-06555-0, EUR 68,00
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Jan Nicolaisen hat in seiner Rezension der 2004 erschienenen Schongauer-Monografie von Stephan Kemperdick [1], selbst ein ausgewiesener Kenner des Colmarer Malers und Kupferstechers, zu Kemperdicks Buch zusammenfassend festgestellt: "so komplett und trotzdem so gründlich behandelt findet man das gesamte Werk Schongauers derzeit schwerlich ein zweites Mal publiziert." [2] Dieser 'warnende' Satz erklingt nun im Kopf, wenn man den fast zweimal so dicken, drei Jahre danach ans Licht gebrachten Band von Ulrike Heinrichs in die Hand nimmt.
In der bereits 2003 an der Ruhr-Universität Bochum angenommenen und für die Veröffentlichung 'leicht' überarbeiteten und ergänzten Habilitationsschrift ging es der Autorin nicht um eine 'klassische' Künstlermonografie. Ihre primäre Absicht war es, ein neues Bild von Schongauer als Künstler im Licht des frühen Humanismus zu präsentieren, unter dem sie unterschiedliche und normalerweise schwer auf einen Nenner zu bringende Phänomene versteht, die sich aber in ihrem Fall, wie im Untertitel des Buches formuliert, in der Vorherrschaft des Wissenschaft und Kunst verbindenden 'Sehens' subsumieren ließen. Versteht man die Sachlage richtig, so soll es die kreative Naturbeobachtung, sowohl der physischen Dinge als auch vor allem von Licht und Farbe, gewesen sein, durch welche der Künstler sein Schaffen auf ein höheres Niveau zu bringen vermochte. Einzelne Kapitel im Hauptteil des Buches, die Einzelwerke oder Werkgruppen Schongauers monografisch behandeln, bestätigen diesen Eindruck. Dennoch wird laut der in der Einleitung postulierten Arbeitsprämissen und des darauffolgenden Kapitels, in welchem der 'Schatzbehalter' Stephan Fridolins als thematischer Ansatz angesprochen wird, klar, dass die Ambitionen der Autorin weit höher liegen. Diese sollen unterschiedliche Aspekte des religiösen Bildgebrauchs und die Verfahrensweise des Künstlers umfassen, ergänzt durch die "Erschließung der spätmittelalterlichen Rezeption vornehmlich der anthropologischen und naturphilosophischen Schriften Aristoteles' (384-322 v.Chr.) als Quelle protoästhetischer Begriffe und Kategorien." (18)
Diesen ersten zwei Kapiteln auf 50 Seiten folgt eine Darstellung Schongauers in Leben und Person, eingeführt durch die Vorstellung eines 'pictor doctus', wofür seine Immatrikulation an der Leipziger Universität 1465 einen konkreten Beleg liefern soll. Aufgerollt werden notorische Fragen aus seiner Biografie sowie die Chronologie seiner Werke. Den Hauptteil des Buches bilden nun Analysen seines Schaffens unter Gesichtspunkten, die den Künstler in dem gewünschten neuen Licht erscheinen lassen sollen. Teilweise sind sie einzelnen Werken gewidmet, wie der 'Muttergottes im Rosenhag' am Anfang (121) und dem Breisacher Weltgericht am Schluss (419), des Weiteren dem Orlier-Retabel aus der Isenheimer Antoniterkirche (159), dem Retabel der Colmarer Dominikaner (187) und der kleinen Tafel der 'Muttergottes im Fenster', heute in Warwickshire (258). Jedes dieser Werke bot den Anlass, einen Punkt aus der aufgerollten Problematik zu erhellen. So die "Farbe als Kategorie der Malerei auf dem Feld der Naturallegorese" im Falle der 'Muttergottes im Rosenhag', "Forma visibilis et visio spiritualis" in jenem des Colmarer Dominikaneraltars usw., aber auch ganz herkömmliche Themen wie "das Altarretabel als künstlerische Aufgabe" am Beispiel des Orlier-Retabels.
Ungeachtet dessen, dass sich die Autorin in diesen Kapiteln vorwiegend auf einem höchst unsicheren theoretischen Boden bewegt, konnte auch sie nicht die 'klassischen' Methoden einer Werkanalyse umgehen: Forschen nach eventuellen Vorbildern und Anregungen, nach Formgenese unter Heranziehen von Handzeichnungen und Stichen, nach Merkmalen der persönlichen Handschrift, nach Ikonografie und ursprünglicher Funktion sowie nach zeitgenössischen theologischen und philosophischen Texten, welche die Feststellungen darüber glaubhaft machen können. Die visuellen Analysen sind ausführlich und minutiös. Obwohl diese nicht immer eben aufschlussreich oder sogar nachvollziehbar sind, regen sie weitere nützliche Diskussionen an.
Ähnlich verhält es sich mit denjenigen Kapiteln, welche die Druckgrafik behandeln. Die Autorin ist sich, im Einklang mit der bisherigen Forschung, der entscheidenden Bedeutung dieser Seite des Schongauer'schen Schaffens völlig bewusst. Nach gleicher Methode wie die Tafelbilder werden zuerst einige Einzelblätter untersucht, die 'Flucht nach Ägypten' (205), die 'Muttergottes mit dem Papagei' (231) und die 'Muttergottes im Fenster' (259), um - neben den unumgänglichen ikonografischen Überlegungen - alle Neuerungen und Qualitäten zu eruieren, die Schongauer sowohl in der Technik des Mediums, vor allem was das Licht und die Farbe betrifft, als auch hinsichtlich des Kupferstichs als einer autonomen Kunstgattung brachte. Parallel dazu wird der Begriff des Andachtsbildes angeschnitten, dessen Funktionalität sich ungeachtet kritisch-polemischer Exkurse nach wie vor auf die Steigerung des Realitätsgrades und der leiblichen Präsenz des Dargestellten für den Gläubigen zurückführen lässt. In dem darauffolgenden Kapitel, betitelt "Raumillusion als bildrhetorische Strategie" (291), werden unter Heranziehen von Stichfolgen, wie der Apostel und der Passion, und weiteren kleinen Tafelbildern die Probleme untersucht, die man vielleicht am besten als "Bildregie" zusammenfassend bezeichnen darf. Bevor die Autorin mit dem Breisacher Weltgericht zum Schluss des analytischen Teils kommt, bespricht sie in jeweils einem Kapitel noch die Wappenbilder, diese vom Gesichtspunkt der "Unterhaltung" (361), und die beiden Stiche mit liturgischen Gegenständen, den 'Bischofsstab' und das 'Weihrauchfass' (389). Im letzten Kapitel, eine Art Zusammenfassung ("Bilanz", 459), wird schließlich die "Frage des Schönen bei Schongauer im Licht der humanistischen Historiographie" präsentiert.
Frau Heinrichs hat in ihr Buch viel Mühe, Kenntnis und Arbeit gesteckt, und ein verständnisvoller Leser wird darin ausreichend Instruktives und Anregendes finden werden. Am Schluss der langen und schwierigen Lektüre wird er sich allerdings fragen, hat es sich gelohnt? Ist es ihr wirklich gelungen, ein Bild Schongauers zu schaffen, das sich von dem in der bisherigen Forschung als 'neu' abheben würde? Und wenn man den Begriff des Humanismus (mit Aristoteles oder ohne ihn) im Auge behält, auf den man durch das ganze Buch hin immer wieder auf eine oder andere Weise stößt, wäre es bei aller Fülle von unterschiedlichsten Vergleichsmaterialien, Beobachtungen und Textzitaten nicht natürlicher gewesen, nach dem Empfang des Künstlers in dem eigentlichen Geburtsland des Humanismus zu fragen? Darüber schweigt die Autorin völlig. Bestimmt gibt es gute Gründe dafür, dass etwa die Madonna in Ganzfigur B. 27 (L. 35) in dem kostbaren, für die Hochzeit der Laudomia Medici hergestellten Stundenbuch, heute in London, von 1502 kopiert [3] und von keinem anderen als Raffael bei der Arbeit an seiner 'Madonna del Gran Duca' um 1504 bis 1505 in Florenz herangezogen worden ist [4]; ein kleiner Stich, im vorliegenden Buch zwar abgebildet, aber nur kurz und in einem anderen Kontext erwähnt (265ff.)? Und da gibt es noch weitere aufschlussreiche Beispiele dieser Art. Ohne auf spekulatives Theoretisieren einzugehen darf man sagen, dass sich der Erfolg Schongauers bei seinen italienischen Kollegen (frei nach Vasari) in drei schlichten, metierspezifisch zu betrachtenden Schlagwörtern zusammenfassen lässt: "neu", "gut (gemacht)" und "schön", um die Frage nach der Kompatibilität seines Stils mit dem der italienischen Renaissance - eine schon längst fällige Forschungsaufgabe - beiseite zu lassen. Und im Norden dürfte es wohl nicht anders gewesen sein.
Anmerkungen:
[1] Stephan Kemperdick: Martin Schongauer. Eine Monographie, Petersberg 2004.
[2] Journal für Kunstgeschichte 9 (2005/3), 211.
[3] Janez Höfler: Signorelli und Schongauer. Zur Rezeption früher transalpiner Druckgraphik in Italien, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte LI (1998), 63-75 (74, Anm. 40).
[4] Rolf Quednau: Raphael und "alcune stampe di maniera tedesca", in: Zeitschrift für Kunstgeschichte LXVI (1983), 129-175 (149ff.).
Janez Höfler