Gisela Mettele: Weltbürgertum oder Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft 1727-1857 (= Bürgertum. Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft; Bd. 4), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 335 S., ISBN 978-3-525-36844-2, EUR 44,90
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Die Chemnitzer Habilitationsschrift von Gisela Mettele betritt in mehrfacher Hinsicht Neuland in der Erforschung der Herrnhuter Brüdergemeine / Brüder-Unität. Zum ersten Mal wird der Versuch unternommen, die Gemeine im Jahrhundert ihrer Entstehung und im Jahrhundert der Entfaltung - zwischen 1723 und 1850 also - als Ganze mit geschichtswissenschaftlichen Methoden aufzuarbeiten. "Geschichte jenseits des Nationalstaats" (11) nennt Mettele als eine Grundbestimmtheit der Gemeingründung Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs. Damit sieht sie die Gemeine als Teil "Atlantischer Geschichte" (13) und Vorreiter des Gegenwartsphänomens der Globalisierung (14). In ihrer Darstellung der Geschichte der Brüdergemeine konzentriert sich die Autorin auf drei Hauptaspekte: die Organisation, die Kommunikation und die Schaffung eines gemeinsamen kulturellen Gedächtnisses (269f).
Zunächst wird die Kommunikation in der Brüdergemeine analysiert. Betrachtet man die Arbeit als ganze, so ist hierin wohl das zentrale Stichwort der Untersuchung zu erkennen. Die Gemeinnachrichten als Publikationsorgan treten in das Blickfeld (147-159). Mettele gibt erstmals einen Überblick über die Verbreitung in Europa und darüber hinaus, bewertet und würdigt die Bedeutung dieses Mediums für die Bindekräfte in der Gemeine. Neben der Binnenwirkung behandelt sie auch die Wahrnehmung der "Außenwelt" (178). Die Darstellung des "Weltgeschehen[s] im Reich Gottes" (178) wird dabei in Form einer historischen Miniatur am Beispiel der Revolutionen der Jahre 1848/1849 verdeutlicht. Die Unterschiede zwischen der Weltsicht der europäischen und der amerikanischen Gemeine werden nicht übersehen, sondern gründlich analysiert (185-190).
In einem zweiten großen Abschnitt wird in Anlehnung an Jan Assmann und Maurice Halbwachs die Frage nach den Trägern eines gemeinschaftlichen Gedächtnisses gestellt, das die Mitglieder der Brüdergemeine von der Gründung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verbunden hat. Mettele wählt als Quellen für das kulturelle respektive kollektive Gedächtnis die Lebensläufe, die von den Gemeingliedern zur Verlesung bei ihrem Heimgang, der Trauerfeier, angefertigt wurden (und werden) und schon früh, zunächst handschriftlich, später gedruckt in den Gemeinnachrichten veröffentlicht wurden. Diese Texte sind in den vergangenen Jahren von der Forschung als Quelle geradezu "entdeckt" worden. Dabei werden die Lebensläufe häufig recht unkritisch als autobiographische Äußerungen verwendet. Mettele arbeitet hingegen präzise heraus, dass es sich bei den Lebensläufen nicht in erster Linie um den Versuch einer umfassenden Selbstdarstellung handelt. Die Veröffentlichung der Lebensläufe ist überdies immer eine binnenkirchliche gewesen, die zunächst einem liturgischen Zweck im Rahmen der Trauerfeier verpflichtet war. Die Publikation in den Gemeinnachrichten hatte ebenfalls einen erbaulichen Zweck und diente nicht vorrangig der Information. Mettele führt dies überzeugend aus und leistet in diesem Abschnitt einen grundlegenden Beitrag zur Erforschung einer für die Brüdergemeine typischen Quellengattung. Sie erarbeitet aufgrund konsequenter Anwendung historischer und philologischer Methodik erstmals ein Bild von der Bedeutung der Lebensläufe für die "Brüdergemeine als Erzählgemeinschaft" (192): Der öffentliche Gebrauch machte sie zur Grundlage des kollektiven Gedächtnisses (194).
Die Lebensläufe boten auch den weiblichen Gliedern der Gemeine Raum zur schriftlichen Entfaltung. Mettele widmet diesem Feld mit gutem Grund breiteren Raum (195-205 passim). Das Augenmerk liegt auf der Tatsache, dass die Lebensläufe selten ohne redaktionelle Bearbeitung erschienen sind. Die kritische Abwägung dieser Beobachtung mit der Tatsache, dass die Brüdergemeine objektiv eine ausgeprägte "Mischung der Stände und Geschlechter" (202) hervorgebracht hat, führt Mettele zu folgendem Urteil: Die Lebensläufe sind als Beitrag zur pietistischen "Praxis des Berichts von der eigenen 'Seelenführung' einzuordnen" (210). Es handelt sich um idealisierte Lebensläufe, die von "Konformitätsdruck und Konformitätsbereitschaft" (230) gekennzeichnet sind. Die Gemeinnachrichten hatten ausschließlich männliche Editoren, die in den Wortlaut eingriffen (231). Interessant sind auch Metteles Einblicke in Aufbau und Motive der Lebensläufe. Sie kommt anhand der untersuchten weiblichen Lebensläufe zu dem Urteil: "Die These Witts, dass sich im Pietismus keine neuen, außerhalb des häuslichen Bereichs liegende Tätigkeitsfelder für Frauen entwickelten, lässt sich für das Herrnhuter Beispiel nicht bestätigen" (244). Die "Eigenlogik der Gemeine" (245) führte zu Mischformen aus Abenteuer- und Reisebericht sowie Berufsbiographien. Es finden sich wenige Gelehrtenlebensläufe. "Frömmigkeit und Innerlichkeit wurde in der Brüdergemeine nicht, wie in den von Witt, Gleixner und anderen untersuchten pietistischen Zusammenhängen, gleichsam an die Frauen delegiert, sondern blieb auch Teil des männlichen Empfindens" (245). Verdeutlicht werden die Beobachtungen auch anhand der Betrachtung prominenter Lebensläufe, die in der Forschung bislang unterbelichtet geblieben waren, wie diejenigen aus der Tischlerfamilie Roentgen (251f).
Der Abschnitt "Das Gedächtnis der Bilder" lenkt den Blick von den verbalen Zeugnissen des kollektiven Gedächtnisses auf die Zeugnisse der Malerei, und zwar anhand des prominenten Beispiels Valentin Haidt (1700-1780) (257). Anhand der Haidtschen Bilder des Jungfernbundes und der Schwesternchöre analysiert Mette das Bildprogramm der Brüdergemeine und eröffnet hier wie in den vorhergehenden Abschnitten viel Raum für weiterführende Forschungen.
An die Studie Metteles mit ihrer Leitfrage "Was macht die Gemeinschaft zu einer Gemeinschaft?" (269) sollten unbedingt weitere kulturgeschichtliche Untersuchungen der hier aufgeworfenen Themenfelder anknüpfen, um noch genauer herauszuarbeiten, in welcher Weise Organisation, Kommunikation und die Schaffung eines gemeinsamen kulturellen Gedächtnisses prägend für eine der wirksamsten Gemeinschaftsgründungen des Pietismus des 18. Jahrhunderts gewesen sind. Die Arbeit Gisela Metteles führt die Erforschung der Geschichte der Brüder-Unität mit neuen geschichtswissenschaftlichen Methoden weiter. Es steht zu hoffen, dass neben der geschichtswissenschaftlichen auch die kirchengeschichtliche Forschung ihre Ergebnisse aufgreifen und fortführen kann.
Thilo Daniel