Klaus Tausend: Im Inneren Germaniens. Beziehungen zwischen den germanischen Stämmen vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. (= Geographica Historica; 25), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, 282 S., ISBN 978-3-515-09416-0, EUR 47,00
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Das erklärte Ziel des Buches ist es, einen frischen Blick auf das alte Germanien zu werfen. Anders als üblich folgt Tausend nicht der Perspektive der Quellen und stellt die römisch-germanischen Beziehungen in den Mittelpunkt. Stattdessen soll das Innenleben Germaniens für den Zeitraum zwischen Ariovist und den Markomannenkriegen erkundet werden (11-14). Dies geschieht in fünf Kapiteln, in denen die innergermanischen politisch-militärischen Beziehungen samt Wanderungsbewegungen (Kap. 1 und 2, 15-141), die germanischen Kultverbände (Kap. 3 "kultisch-religiöse Beziehungen", 143-154), "interfamiliäre Kontakte" (Kap. 4, 175-182) sowie die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den germanischen Stämmen analysiert werden (Kap. 5, 183-204). In einem Schlusskapitel (205-225) formuliert Tausend weitreichende Ergebnisse, auf die noch einzugehen sein wird, als Teil des dritten Kapitels zu den "kultisch-religiösen Beziehungen" hat Sabine Tausend einen Beitrag zu germanischen Seherinnen verfasst (155-174), und in einem Anhang äußert sich Günter Stangl zur Demographie (227-253).
Schon diese Inhaltsbeschreibung macht klar: es handelt sich bei dem Buch um ein großangelegtes Kompendium, das so viele Detailbeobachtungen enthält, dass an dieser Stelle nicht auf alles eingegangen werden kann. Es seien daher nur ein paar Punkte herausgegriffen: Der erste Teil zu den politisch-militärischen Beziehungen leidet etwas unter der Anordnung des Materials. Tausend beginnt nämlich mit einer Art Katalog, in dem auf knapp 30 Seiten alle einschlägigen Quellen chronologisch geordnet paraphrasiert werden (15-45). Danach wertet er dieselben Quellen hinsichtlich verschiedener Aspekte aus (Träger von Bündnissen, Dauer von Bündnissen, Motive für Bündnisse und Konflikte usw.), und zwar nicht selten ein und denselben Fall gleich mehrfach, und dies führt zu Wiederholungen und einem stellenweise redundant wirkenden Text.
Die Stammesverfassungen werden in diesem Zusammenhang zu statisch dargestellt, denn immerhin ist in den 250 Jahren Untersuchungszeitraum grundsätzlich mit Entwicklungen zu rechnen, und dies umso mehr in einer Epoche, in der die enge Nachbarschaft zum römischen Reich Veränderungen aller Art begünstigte. Bei den Cheruskern beispielsweise ist zu vermuten, dass die in Tac. ann. 11,16 erwähnte stirps regia nicht auf ein uraltes Stammeskönigtum zurückgeht, sondern das Resultat der Bestrebungen des Arminius ist, sich eine monarchische Machtstellung aufzubauen (69). [1] Nüchtern betrachtet wird man einräumen müssen, dass wir oft einfach zu wenig wissen, und deshalb ist manchen Punkten nicht wirklich beizukommen. Vor diesem Hintergrund sind manche Ausführungen dann jedoch viel zu hypothetisch. Dies gilt besonders für den Exkurs zu den Seherinnen, bei dem die antiken Schriftzeugnisse völlig unbekümmert mit altnordischen Quellen, zum Teil Göttersagen, kombiniert werden, als wäre die Existenz einer homogenen Kulturgemeinschaft, die den gesamten germanischen Sprachraum umfasste und über Jahrhunderte unveränderlich blieb, eine ausgemachte Sache. Auch den griechisch-römischen Quellen hätte zuweilen kritischer begegnet werden können: muss man Caesars Behauptung (BG 6,23), die germanischen Stämme hätten sich aufgrund ihrer kriegerischen Natur mit breiten Ödlandstreifen umgeben, wirklich für bare Münze nehmen (147)?
Die großen Abschlussthesen lauten wie folgt (205-224): Räumlich gesehen sei Germanien keineswegs, wie immer behauptet wird, eine Einheit gewesen. Nach Tausend verliefen die Kontakte in Germanien - den Verkehrswegen entsprechend - hauptsächlich in nord-südliche Richtung, aber kaum von Westen nach Osten. Auf dieser Achse sei vielmehr eine Zweiteilung festzustellen: Auf der einen Seite standen die Rhein-Weser-Germanen, auf der anderen die Elbgermanen, die eng verbunden waren mit den Oder-Weichsel-Germanen.
Im Gegensatz zu dieser räumlichen Spaltung sieht Tausend zeitlich eine große Einheitlichkeit. Eine Zäsur in der germanischen Geschichte, wie man sie gemeinhin um 200 n. Chr. ansetzt, habe es nur in der Berichterstattung gegeben, nicht jedoch bezüglich der politischen Struktur. Für die Zeit 50 v. bis 180 n. Chr. erkennt Tausend zunächst sechs, dann fünf Machtblöcke: (1) Am Rhein zuerst die Sugambrer, die dann von den Brukterern beerbt werden, (2) im Norden die Chauken, (3) im Mittelgebirgsraum nördlich der Mainlinie die Chatten, (4) zwischen Chauken und Chatten die Cherusker, die von diesen beiden Stämmen dann absorbiert werden, (5) an der Elbe und in Böhmen die Sueben samt Markomannen und Quaden, sowie (6) im Oder-Weichsel-Gebiet die Lugier. Diese Machtblöcke nun nehmen, so Tausend, die späteren, in der communis opinio für neu gehaltenen Stammesverbände praktisch vorweg. Aus der Rheingruppe werden die Franken, an die Stelle der Chauken treten die Sachsen, die Elbgermanen benennen sich um in Alemannen und wandern nach Südwesten, die alten Markomannen nehmen den Suebennamen (wieder) an, und die Lugier verwandeln sich in die Wandalen (223-224). Mit anderen Worten: Tausend will darauf hinaus, dass es die Römer bis in die Spätantike hinein in Germanien immer mit denselben Akteuren zu tun hatten; diese begegnen später lediglich 'in neuem Gewand'.
An dieser Stelle beendet Tausend die Analyse, obwohl sein Ergebnis weitreichende Folgen hat für das Verständnis der Vorgänge im 3. Jahrhundert n.Chr. und danach. Wenn es nämlich damals im Inneren Germaniens keine tiefgreifenden Veränderungen gab, dann kann man die Probleme, in die das Reich spätestens ab 235 n. Chr. stürzte (die "Krise des 3. Jahrhunderts") [2], auch nicht, wie das ein Teil der Forschung tut, durch einen erhöhten Druck auf die Grenzen erklären - dann haben diejenigen Recht, die die desolate Lage Roms auf innere Schwächen zurückführen [3]
Aber: stimmt das denn? Die Trennung Germaniens in zwei scharf voneinander geschiedene Räume liegt doch an der Perspektive der römischen Quellen, die nach dem Rückzug aus dem rechtsrheinischen Gebiet kein einheitliches Germanien mehr als Gegenstand hatten, sondern nur noch zwei verschiedene Grenzabschnitte, den Rhein und die Donau, von denen aus man jeweils unterschiedliche Blicke ins Barbaricum warf [4]. Außerdem gab es ja Kontakte zwischen den Rhein-Weser-Germanen und den Elbgermanen, das sagt auch Tausend (206-207), nur spielt er sie herunter. Angesichts der Quellenlage ist freilich zu vermuten, dass diese Verbindungen weitaus intensiver waren, als wir wissen.
Schwierig ist auch Tausends zweite These, und hier kommt Günter Stangl ins Spiel, denn der erinnert im Anhang zu Recht daran, dass die germanischen Machtbildungen der Zeit vor 200 n. Chr. sehr kurzlebig waren: "Größere Verbände können durchaus entstehen, zerfallen aber offenbar relativ schnell, da die Verbindung stark personenbezogen ist (Ariovist, Arminius, Marbod), und ein Misserfolg genügt, sie zu sprengen." (253). Das ist ein wichtiger Unterschied zur späteren Zeit, die ab dem 3. Jahrhundert auftauchenden Stammesverbände sind ungleich stabiler. Gerade Stangls Beitrag über die Demographie lenkt das Augenmerk zudem auf die Möglichkeit, dass die Machtbildungen des 3. Jahrhunderts volkreicher - und daher auch deswegen für Rom gefährlicher - waren als ihre Vorgänger, auch wenn er selbst von einer konstanten Bevölkerungszahl Germaniens ausgeht. Es ist jedoch nicht abwegig anzunehmen, dass die intensiven Beziehungen zum römischen Reich im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. nicht nur zu einem wirtschaftlichen, sondern auch zu einem demographischen Wachstum in Mitteleuropa geführt haben [5].
Im Übrigen rechnet Stangl hier vielleicht zu vorsichtig. Er geht für den germanischen Bereich von einer Bevölkerungsdichte von 5 Einwohnern pro Quadratkilometer aus (253), was gut zu konventionellen Schätzungen für das Imperium passt. [6] Diese aber sind wahrscheinlich zu niedrig, wie neueste Feldforschungen zeigen: Das eher ländlich geprägte Gebiet der zentrallykischen Polis Kyaneai kam in der Kaiserzeit nämlich auf etwa 44 Einwohner pro Quadratkilometer [7] und das heißt, dass die bislang gültigen Annahmen deutlich nach oben korrigiert werden müssen. Dann dürften aber auch jenseits der Reichsgrenzen mehr Menschen gelebt haben.
Man kann also vieles anders sehen. Indessen können die vorgenannten Kritikpunkte den Wert des Buches nicht schmälern. Tausend und seine Mitstreiter haben auf der Grundlage einer umfassenden Darstellung des einschlägigen Diskussions- und Kenntnisstandes einen wichtigen Beitrag zum antiken Germanien vorgelegt, der die weitere Forschung in diesem Bereich zweifellos befruchten wird.
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu R. Wolters: Die Schlacht im Teutoburger Wald, München 2008, 98 mit Anm. 89.
[2] Vgl. dazu jetzt K.-P. Johne / U. Hartmann (Hgg.): Die Zeit der Soldatenkaiser, 2 Bde., Berlin 2008.
[3] K. Strobel: Das Imperium Romanum 180-284/85 n.Chr., in: E. Erdmann / U. Uffelmann (Hgg.): Das Altertum, Idstein 2001, 239-278.
[4] Vgl. dazu D. Timpe: Der römische Verzicht auf die Okkupation Germaniens, Chiron 1, 1971, 267-284.
[5] R. Wolters: Die Römer in Germanien, 5. Aufl. München 2006, 88ff.
[6] T. Parkin: Demography and Roman Society, Baltimore 1992, rechnet auf Seite 5 mit 15 Einwohnern/qkm für das römische Reich insgesamt, und P.A. Brunt: Italian Manpower 225 B.C. - A.D. 14, 2. Aufl. Oxford 1987 auf Seite 60 mit 38 Einwohnern/qkm für Italien.
[7] F. Kolb: Burg, Polis, Bischofssitz. Geschichte der Siedlungskammer von Kyaneai in der Südwesttürkei, Mainz 2008, (428) und öfter.
Hartmut Blum