Ute Lucarelli: Exemplarische Vergangenheit. Valerius Maximus und die Konstruktion des sozialen Raumes in der frühen Kaiserzeit (= Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben; Bd. 172), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 336 S., ISBN 978-3-525-25281-9, EUR 64,90
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Bei dem zu besprechenden Buch handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung der im Sommersemester 2006 von der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommenen Dissertation der Althistorikerin Ute Lucarelli.
Wie der Titel verrät, behandelt Lucarelli die exempla-Sammlung des Valerius Maximus, die ursprünglich zehn Bücher umfassenden (Gell. 12,7,8) und dem Kaiser Tiberius gewidmeten Facta et dicta memorabilia aus den Jahren 27-31 n.Chr. Das Werk war seit der Spätantike so beliebt, dass eine reiche Handschriftenüberlieferung, Inkunabeln und eine frühe Übersetzung in die europäischen Volkssprachen seine Erhaltung und Verbreitung sicherten. Das hatte allerdings auch zur Folge, dass sich die moderne Forschung überwiegend mit den Facta et dicta memorabilia als "Quellen-Steinbruch" (19) zur vorlivianischen annalistischen Tradition beschäftigte. Lucarelli möchte mit ihrer Arbeit demgegenüber stärker an die aktuelle französische Forschung [1] anknüpfen, die die exempla-Sammlung als "Gesamtwerk" (23) betrachtet und auf diesem Wege neue Erkenntnisse über das "Selbst- und Vergangenheitsverständnis der frühkaiserzeitlichen Aristokratie" (22) erarbeitet. So hält sie sich meines Erachtens zu Recht nicht mit einer Rekonstruktion der ohnehin kaum noch fassbaren vita des Valerius Maximus auf (vgl. 241 A. 665), sondern verortet sein Werk innerhalb des "frühkaiserzeitlichen Normendiskurses" (288), um die sozialen Beziehungen der römischen Oberschicht zu erhellen, die durch das krisengeschüttelte 1. Jahrhundert v.Chr. und die folgende traumatische Konsolidierung der frühen Kaiserzeit eine "Neukonstruktion" (15) erfahren haben. Die spannende Frage ist hierbei, wie die Bürgerkriegserfahrungen mitsamt der Proskriptionen und der dadurch erfolgten Erschütterung der traditionellen Normen und Familienstrukturen in den allgemein akzeptierten Erinnerungsraum integriert werden können, damit die Vergangenheit Roms wieder sinn- und identitätsstiftend erfahren werden kann (12-16). In Weiterführung der insbesondere auf die spätrepublikanische Literatur bezogenen exempla-Forschung [2] folgt Lucarelli der Klassifizierung durch J.-M. David, der auf die "force évocatoire" der exempla verweist und dabei die Frage der Intention stärker in den Vordergrund rückt (30-32). Lucarelli möchte hierbei das Augenmerk auf die "Konstruktion konkreter 'Bilder'" (23) legen, deren "literarische Präsenz" (35) sie in drei Kategorien einteilt (120-124): exempla mit einem "hohen Maß an Intentionalität", als "unmittelbare Inszenierungen" bezeichnet (35), exempla, bei denen die sozialen Bindungen notwendig für das Verständnis der Aussage sind, bezeichnet als "mittelbare Inszenierungen" (36), und schließlich die bislang von der Forschung nicht beachteten exempla, bei denen die sozialen Beziehungen "en passant" oder "kontingent" erwähnt werden (36).
Im Verlauf ihrer Studie untersucht Lucarelli die Erwähnungen von Familienbeziehungen innerhalb der exempla, wobei die Darstellung der Beziehung zwischen Vater und Sohn den größten Raum einnimmt (37-129). Dabei arbeitet sie heraus, dass sich die inszenierten und die en passant erwähnten Abbildungen sozialer Beziehungen vor allem in Hinsicht auf die Bedeutung der res publica in diesem Spannungsverhältnis grundlegend unterscheiden, gleichzeitig aber beide Entwürfe parallel nebeneinander existieren (119). Das "Maß an Intentionalität" und die "konkrete Darstellungsintention" (121) sind hierbei für sie wichtige Kriterien bei der Einordnung eines exemplum. Somit kann sie die These aufstellen, dass die "partielle Funktionserweiterung der exempla" die Aufgabe hat, "Handlungsanleitungen für Situationen zu bieten, die bisher noch keiner eindeutigen normativen Fixierung unterlagen" (126). Anhand der Untersuchungen weiterer Verwandtschaftsbeziehungen (131-213) und sozialer Beziehungen außerhalb der Kernfamilie, d.h. innerhalb der familia und der fides-Beziehungen (214-285), kommt sie zu dem Gesamtergebnis, dass die späte Republik im Geschichtsbild des Valerius Maximus durchaus positiv besetzt ist (278), da bei ihm Reizthemen wie der korrumpierende Einfluss von Gefolgschaftsbeziehungen [3] sinnstiftend umgedeutet, dabei gewissermaßen entpolitisiert und so dem moralisch-privaten Aspekt eines exemplum untergeordnet werden (258-285). Ähnlich ergeht es den amicitia-Beziehungen, die bei Valerius Maximus nicht mehr als die pragmatischen und flexiblen politischen Freundschaftsverhältnisse der römischen Oberschicht, sondern als unbedingte Loyalitätsbeziehungen im moralisch-personalisierten Sinne gedeutet werden (255-257; 282-285). Die Konzentration auf "absolute, von äußeren Faktoren unabhängige Größe[n]" (285) wie amor, fides uxorum, fides servorum, amicitia und auf Normen wie pietas, gratia und moderatio zeigt den Wunsch nach "gleichsam voraussetzungslosen Treueverhältnisse[n], die auch und gerade in Krisenzeiten 'funktionierten' und somit Schutz und Sicherheit bieten konnten" (285) und entstand laut Lucarelli aus der Rückschau auf die von Verrat und Verfolgung geprägte Bürgerkriegszeit (210-213; 220-228; 242-245). In einigen Fällen findet diese Neuausrichtung der exempla mithilfe eines "(fiktive[n]) Rechtsanspruch[s]" (285) statt, wobei das Konzept des Naturrechts in der Nachfolge Ciceros und der Stoiker eine große Rolle spielt (98-106; 291; 298-299). [4] Mit der Dominanz eines privatmoralischen Normengefüges und der Deutung von politischen Konfliktsituationen als moralischem Fehlverhalten (296) überwindet Valerius Maximus das Trauma der Krisenzeit und ordnet die späte Republik nicht als Umbruchzeit, sondern als Kontinuitätsphase in sein Geschichtsbild ein. Das war sicherlich auch möglich, weil die Erfahrungen der Bürgerkriege bei den Nachkommen der betroffenen Familien zwar noch als Teil der Familienerinnerung präsent waren, es aber in der Zeit der Abfassung der Facta et dicta memorabilia wohl kaum noch Zeitzeugen oder direkt Betroffene gegeben hat. Abgesehen davon war in augusteischer Zeit schon längst eine Umdeutung der jüngeren Geschichte erfolgt, bei der die strukturellen Konflikte innerhalb der res publica geglättet oder sogar ausgelöscht wurden (15-16).
Insgesamt gesehen wird Lucarelli ihrer selbstgestellten Aufgabe gerecht, eine neue Klassifizierung der exempla-Sammlung des Valerius Maximus entworfen, diese in den Gesamtkontext eines frühkaiserzeitlichen Geschichtsbildes und Normendiskurses verortet und die Tradition der Normen- und Vergangenheitsdiskurse von der republikanischen bis hin zur kaiserzeitlichen Epoche in ihrem Wandel, aber auch in ihren gemeinsamen Grundlagen, plausibel und stringent erläutert zu haben. Dabei geht sie methodisch sehr diszipliniert vor, indem sie die Darstellung der vielfältigen sozialen Beziehungen im valerischen Werk auffächert und diese in den übergeordneten Zusammenhang einer neuen Konstruktion des "Vergangenheitsraumes" (296) setzt. Sie legt mit ihrer Arbeit ein außerordentlich gewinnbringendes Muster vor, das sicherlich auch bei anderen Autoren anzuwenden ist. Lucarelli zeichnet anhand ihrer Interpretation der exempla den Rückzug der frühkaiserzeitlichen Oberschicht ins Private und die Abkehr vom Primat der res publica im Normendiskurs nach. Dabei macht sie deutlich, dass dies die Wertevorstellung der Oberschicht nicht schmälert, sondern in der Verlagerung nach innen neue Perspektiven für die Träger eröffnet. Im letzten Kapitel ihrer Dissertation, "Soziale Beziehungen in exemplis: Folgerungen und Ausblick" spricht sie am Ende die "systematische Einbeziehung externer exempla" (299) an, die auf die provinzialen Eliten und deren Integration in den Vergangenheits- und Normendiskurs im Zuge einer wachsenden Sicht auf die Einheit des Imperium Romanum hinweist. Hatten die externen exempla in der spätrepublikanischen Literatur in hohem Maße die Funktion als Bedeutungsfolie für die römischen exempla [5], so erhalten sie nun bei Autoren wie Valerius Maximus und Velleius Paterculus eine größere Eigenständigkeit. Es ist sicherlich lohnenswert, dieses Phänomen ähnlich wohldurchdacht und gut strukturiert zu erfassen, wie es mit den Facta et dicta memorabilia durch Lucarelli geschah.
Anmerkungen:
[1] J.-M. David (ed.): Valeurs et mémoire à Rome. Valère Maxime ou la vertu recomposée, Paris 1998.
[2] Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten von M. Stemmler, K.-J. Hölkeskamp, J.-M. David und U. Walter, vgl. 29 A. 54. Hinzuzufügen wäre noch die Dissertation von F. Bücher (Verargumentierte Geschichte. Exempla Romana im politischen Diskurs der späten römischen Republik, Stuttgart 2006), auf die Lucarelli nur kurz Bezug nimmt (24 A. 39), da die Arbeit wohl erst nach Abschluss ihres Manuskripts erschienen ist.
[3] Es sollte an dieser Stelle (259 mit A. 721) darauf hingewiesen werden, dass die Rekrutierung Besitzloser schon vor C. Marius begann, wenngleich Sallust als eine der Hauptquellen des Valerius Maximus auf C. Marius als den Initiator verweist (Sall. Iug. 86,2), vgl. J. W. Rich: The Supposed Roman Manpower Shortage of the Later Second Century B.C., in: Historia 32, 1983, 287 ff.
[4] Hinzuzufügen wären an dieser Stelle noch folgende Arbeiten von K. M. Girardet: Die Ordnung der Welt. Ein Beitrag zur philosophischen und politischen Interpretation von Ciceros Schrift de legibus, Wiesbaden 1983; "Naturrecht" bei Aristoteles und Cicero (De legibus). Ein Vergleich, in: W. W. Fortenbaugh / P. Steinmetz (eds.): Cicero's Knowledge of the Peripatos, New Brunswick/NJ 1989, 114 ff.; Naturrecht und Naturgesetz. Eine gerade Linie von Cicero zu Augustinus ?, in: RhM 138, 1995, 266 ff.
[5] Vgl. Cic. de or. 1,210f. 3,27f.; M. Stemmler: Auctoritas Exempli. Zur Wechselwirkung von kanonisierten Vergangenheitsbildern und gesellschaftlicher Gegenwart in der spätrepublikanischen Rhetorik, in: ders. / B. Linke (Hgg.): Mos Maiorum. Untersuchungen zu den Formen der Identitätsstiftung und Stabilisierung in der römischen Republik, Stuttgart 2000, 141ff., hier: 179ff.
Iris Samotta