Andrew Lintott: Cicero as Evidence. A Historian's Companion, Oxford: Oxford University Press 2008, X + 469 S., ISBN 978-0-19-921644-4, GBP 78,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Barbara Dimde: Gladiatur und Militär im römischen Germanien, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2019
Gesine Manuwald (ed.): Cicero, Philippics 3-9. Edited with Introduction, Translation and Commentary, Berlin: De Gruyter 2007
Daniel Bühler: Macht und Treue. Publius Ventidius: Eine römische Karriere zwischen Republik und Monarchie, München: Allitera 2009
Ciceros Schriften sind für den Althistoriker die wichtigsten Zeugnisse für die Erforschung der späten römischen Republik. Hinsichtlich ihres Quellenwertes werden die verschiedenen Teile seines Oeuvres freilich strittig diskutiert, was in besonderem Maße für die Reden gilt. Ein Buch, das sich dieser Problematik widmet, ist folglich höchst willkommen.
In vier umfangreichen Haupt- und zahlreichen Unterkapiteln möchte Andrew Lintott, ein ausgewiesener Kenner der ausgehenden Republik, dem Leser die "variety of evidence" (v) in den verschiedenen Schriften Ciceros vor Augen führen und ihm gleichzeitig Werkzeuge für einen kritischen Umgang mit denselben an die Hand geben.
Das erste Hauptkapitel, "Reading Cicero" (3-39), dient als methodische Einführung. Nach der Mahnung, dass Ciceros Schriften nicht als genaue Abbilder der Geschichte der späten Republik verstanden werden dürfen, sondern in aller Regel eine Intention verfolgten, demonstriert Lintott die Berechtigung dieser Warnung. Hierbei zeigt er unter anderem, dass man Ciceros Briefe bisweilen nicht wörtlich nehmen darf: In Att. 1,1,2 bittet im Jahre 65 Cicero im Zuge der Planungen für seine Wahl zum Consul den in Epirus weilenden Atticus darum, für ihn bei Pompeius zu werben. Letzerer war indes mit dem Krieg gegen Mithridates beschäftigt. Cicero betont, er werde Pompeius nicht zürnen, wenn dieser im darauffolgenden Jahr nicht seiner Wahl beiwohnen könne. Einerseits handelt es sich hierbei um eine scherzhafte Bemerkung, wie Lintott mit Recht feststellt (6). Darüber hinaus war Cicero tatsächlich sogar froh darüber, dass Pompeius mit seiner großen Heeresklientel die Wahlen nicht beeinflussen würde. [1] Im Folgenden (19-32) spricht Lintott das Problem an, dass die uns vorliegenden Reden nicht durchgängig mit den tatsächlich gehaltenen übereinstimmen, sondern in nicht wenigen Fällen überarbeitet wurden. Hinsichtlich der durch Cicero in seinen orationes vermeintlich mitgeteilten 'Fakten' macht Lintott ferner deutlich (33-39), dass man dem Redner in nicht wenigen Fällen Übertreibungen und sogar bewusste Falschaussagen nachweisen kann.
Im zweiten großen Abschnitt des Buches, "Reading Oratory" (41-125), werden detailliert die forensischen Reden Ciceros besprochen. Erneut kann Lintott aufzeigen, dass Ciceros Ausführungen "occasionally, but not often, [...] must be completely discounted" (68). Üblicherweise habe dieser in den Prozessreden aber auf leicht zu entkräftende Lügen verzichtet und stattdessen am Image seines Klienten gearbeitet, indem er diesen möglichst positiv darzustellen suchte. Da eine Kontrolle der Prozessreden Ciceros nicht wie diejenige seiner späteren politischen orationes anhand der Briefe möglich sei, müsse man sich jedenfalls davor hüten, Einzelheiten wörtlich zu nehmen (100).
Teil drei der Untersuchung, "History in Speeches and Letters" (127-211) behandelt nacheinander die verschiedenen Stationen in Ciceros politischem Leben zwischen den Jahren 65 und 55 auf Grundlage der Reden und Briefe. Im Falle seiner Kandidatur für den Consulat wird auch die als commentariolum petitionis bekannte Schrift diskutiert (130-133), wobei Lintott keine Zweifel daran hegt, dass Ciceros Bruder Quintus Autor dieser Abhandlung ist, und die in der Forschung bisweilen vorgebrachten Bedenken überzeugend widerlegen kann. Der Brief Att. 2,3,3 belegt nach Lintott, dass der so genannte erste Triumvirat Cicero als vierten im Bunde habe aufnehmen wollen, ein Angebot, das dieser seiner optimatischen Gesinnung wegen ausgeschlagen habe (165f.). Allerdings ist dies doch wohl eine allzu freie Auslegung. Man wollte Ciceros Unterstützung für die vom Triumvirat für das nächste Jahr anvisierte lex agraria gewinnen, mehr anscheinend aber nicht. Andernfalls hätte man wesentlich früher versucht, den Consular an sich zu binden. Die kaiserzeitlichen Quellen legen die Begründung des Dreibundes in den Sommer [2], wobei nach Dio zuerst Geheimhaltung verabredet wurde. Der Brief an Atticus bestätigt dies, zeigt er doch, dass Cicero noch am Ende des Jahres völlig ahnungslos war und erst durch Caesars Agenten Balbus über die politische Verbindung aufgeklärt wurde.
Im vierten und umfangreichsten Teil der Monographie, "History and Ideas" (213-424) widmet sich Lintott dem weiteren Wirken Ciceros bis zu seinem Tode im Jahre 43. Für die Nachzeichnung der Ereignisse der letzten beiden Jahre kann Lintott neben Ciceros umfangreicher Korrespondenz auf das Corpus der Philippicae zurückgreifen, wobei er den Quellenwert dieser Ansprachen ebenso wie manche Aussagen in den Briefen ad familiares zu Recht kritisch betrachtet (386). Trotzdem ist es vor allem Cicero selbst, der im letzten Teil des Buches zu Wort kommt. Die späteren Autoren werden nur gelegentlich berücksichtigt, obgleich sie manche Äußerung Ciceros relativieren können, wie diejenige, dass die prudentes autem et boni viri das Gerücht des Attentatsversuchs auf Antonius durch Octavian geglaubt und die Absicht gebilligt hätten (383; vgl. fam. 12,23,2), was Appian (civ. 3,39) gerade im Falle der "Klugen" anders sieht. Das Fehlen der Atticus-Briefe von Ende des Jahres 44 an bis zum Tode Ciceros erklärt sich Lintott damit, dass "Atticus or his heirs suppressed the later correspondence between the two, because it showed either Cicero in a bad light or Atticus himself" (385), was sicherlich möglich ist. Andererseits war Cicero, wie auch Lintott selbst an gleicher Stelle feststellt, nach seiner Rückkehr im Dezember für die folgende Zeit bis zu seiner Flucht durchgängig in Rom, so dass ein brieflicher Austausch unnötig war. Rechtzugeben ist Lintott darin, dass der Einfluss Ciceros im Senat für das Jahr 43 von der Forschung häufig überschätzt wird (406f., 421). Dass der Consular den Caesarerben von vornherein nur als "necessary instrument" (421) gegen Antonius benutzen wollte und sich hinsichtlich der Ziele Octavians keiner Illusionen hingab, ist dagegen keinesfalls sicher.
An die Darstellung angehängt sind acht Appendizes (425-447), darunter eine Chronologie [3] der Ereignisse in den Jahren 44 und 43; ferner eine Bibliographie (448-456) und ein Index (457-469), der auch die behandelten Stellen aus Ciceros Oeuvre umfasst.
Die Hauptthese der Studie, die Notwendigkeit einer kritischen Benutzung der einzelnen Schriften Ciceros, ist nicht neu, grundsätzlich aber noch nie derart umfassend begründet worden. Bisweilen hätte man sich gerade in den Details eine stärkere Berücksichtigung der Forschung gewünscht. Nichtsdestotrotz wird das Buch einen wichtigen Platz unter den Studien über Cicero und sein Werk einnehmen.
Anmerkungen:
[1] So bereits D. R. Shackleton-Bailey: Cicero's letters to Atticus 1, Cambridge 1965, 294.
[2] Entweder vor den Consulatswahlen (App. civ. 2,9,33; Cass. Dio 37,54-58; Plut. Caes. 13f.) oder danach (Suet. Iul. 19f.).
[3] Hier hätten die maßgeblichen Arbeiten von E. Becht (Regeste über die Zeit von Cäsars Ermordung bis zum Umschwung in der Politik des Antonius, Freiburg 1911) und U. Ehrenwirth (Kritisch-chronologische Untersuchungen für die Zeit vom 1. Juni bis zum 9. Oktober 44 v.Chr., München 1971) verglichen werden müssen. Die Ansicht, dass die Provinzen Syria und Macedonia, welche sich Dolabella und Antonius nach der Ermordung Caesars sicherten, ursprünglich für Brutus und Cassius vorgesehen waren (440), gilt schon lange als widerlegt; siehe K. Matijević: Marcus Antonius: Consul - Proconsul - Staatsfeind. Die Politik der Jahre 44 und 43 v.Chr., Rahden 2006, 50f. Anm. 65.
Kreimir Matijević